Artfremde

Text zum Thema Märchen

von  modedroge

Hier sieht man ihre Trümmer rauchen,
Der Rest ist nicht mehr zu gebrauchen.
Aus: Die Fromme Helene (Wilhelm Busch)


Bevor ich einschlafe, wird mir durch das hölzerne Gitter noch mitgeteilt, dass eine Frau lebend begraben wurde. Der Vater hält inne, schaut zuerst mich, dann wieder das aufgeschlagene Buch an. Ich behalte seinen Mund im Auge, wie gewöhnlich: Die Menschen um mich her erkenne ich zunächst an ihren Zähnen.
Die Frau, eine Königin, hat zu allem Unglück ein Kätzchen und ein Hündchen geboren. Der Vater befeuchtet seinen Daumen und blättert um. Ihrem Mann, dem König, wären aber – bei allem, was recht ist – ein paar richtige Kinder lieber gewesen. Ach du Schreck!
Der Zwischenfall erschien dem König sehr ärgerlich, ja skandalös! Kam ihm aber sonst nicht weiter komisch vor. Deshalb hat er nicht erst ein klärendes Gespräch mit seiner Frau gesucht, sondern gleich das einzig Richtige getan. Klipp-klapp!, Bauz! und Wupp!, das Übliche.
Man kann nur spekulieren, wie er es sich erklärt, dass die Gemahlin mit zwei artfremden Säugetieren niederkommt. Die kurz darauf ertränkt werden, noch blind und haarlos, aber beileibe nicht zu klein, um jedermanns Erwartungen bereits enttäuscht zu haben. Ich staunte in meiner eigenen Sprache.
Und dann kam die überraschende Wendung, halt den Hut fest: Die Frau Königin hatte den Fortpflanzungsvorgang sehr wohl erfolgreich vollzogen und Zwillinge mit menschlichem Genom hervorgebracht! Nur hat im rechten Moment die gemeine Köchin alle beide heimlich entwendet, sorgfältig im Misthaufen verstaut und durch Modelle von minderer Güte ersetzt. Zwei Stück, immerhin, denn Ordnung muss sein!
Der König rundet die Sache ab, indem er die Köchin heiratet.
Peinlich nur, dass die Seelen der ermordeten Kinder nach einigen flüchtigen Übergangsexistenzen (als Nadelbäume, Holzbretter, Funken, Schafe und Gedärme) an den Königshof zurückkehren, diesmal als zwei makellose Wiedergänger in Menschenkindesgestalt. Als der König das Fehlerchen bemerkt, tut er wieder das einzig Konsequente: Er begräbt auch die Frau Köchin lebendig.
Den Leichnam seiner ersten Gattin aber beträufelt er mit einem speziellen Wasser, das er zu diesem Zweck von sogenannten Zwergen erworben hat, und das sie, die Königin, wieder zum Leben erweckt.
Mich hätte interessiert, was sie gesagt hat, als sie aufgewacht ist, und vor allem, wie sie ausgesehen hat. Leider bekam ich darauf keine richtige Antwort, ich bekam noch nicht einmal ein Kätzchen und ein Hündchen. Ich stellte, der Not gehorchend, eigene Überlegungen an, die meisten davon im Zusammenhang mit allgemeiner Hygiene und bereits abgeschlossenen Fäulnisvorgängen. Wie darf man sich die Zwischenstadien dieses Makeovers vorstellen, vom Exhumieren und Entstauben des Skeletts bis zur putzmunteren Königsfrau und Mutter?
Obwohl mir die Begriffe fehlten, malte ich mir schattenhaft aus, das Zauberwasser sei das Gegenteil von einem Säurebad und die Königin werde Schicht für Schicht, Faser für Faser, Härchen für Härchen wieder aufgeforstet. Ich habe mir vorgestellt, dass dieser Vorgang blitzschnell geht, oder dass zumindest niemand hinschaut.
Und dann?
Wird einfach wieder da angeknüpft, wo vorher abgeknüpft wurde.
Und auf diese Weise lernt man, was es mit der bedingungslosen Liebe auf sich hat, wofür man auf den Thron gesetzt und wofür man lebendig begraben, ertränkt oder im Misthaufen verscharrt wird. Und wieder auf den Thron gesetzt. Und vielleicht noch ein weiteres Mal begraben, es ist ja nichts in Stein gemeiẞelt. Erfüllt die Königin ihre Aufgaben zur Zufriedenheit, wird sie zum Dank auf ihren Platz verwiesen, wo sie hingehört, und gehandhabt wie gehabt. Der König hingegen hat eine unbefristete Stelle auf dem Thron, von wo aus er nach Herrscherslust ein- und ausgraben kann, was er will. Ein Mensch wird sich wohl noch mal vertun dürfen.

Der Vater starrt auf das Geflecht aus schwarzen Förmchen und sagt dabei die fantastischsten Geschichten auf, als wäre er hypnotisiert. Wenn man sich nur fest auf das feine Gewebe konzentriert, kommen einem Märchen aus dem Mund. Das ist Zauberei!
„Das nennt man Lesen“, sagt der Vater. Für mich sieht das aus wie ein Rausch. Texte – das sind Muster und Bilder für Erwachsene. Las man mir aus einem Bilderbuch vor, erschien es mir, als illustrierten die Texte die Bilder und nicht umgekehrt. Ich blickte auf bewegungslose farbige Abbildungen vom Suppenkasper, von Konrad und dem Paulinchen, während die Stimme des Erwachsenen in tänzerischen Versen skandierte, wie Kinder für ihre Fehler verhungerten, verbrannten und verstümmelt wurden.
Ich bat darum, man möge mir das Lesen beibringen, so wie man einen Erwachsenen darum bittet, er möge einen an seiner Zigarette ziehen oder an seinem Weinglas nippen lassen, doch zu meinem Erstaunen lieẞ sich der Vater darauf ein – auf das Lesen, nicht auf das Ziehen und Nippen –, und so konnte ich wenig später in meinem eigenen Versmaẞ verdauen, wie ein Affe einem Mann stümperhaft die Nase amputiert, eine liederliche Weibsperson lebend verbrennt (schon wieder) und zwei Knaben unbetäubt zermahlen werden.
Nachdem der Bäcker bereits vergeblich versucht hatte, die Kinder durch Ofenhitze zu töten, hat der Müller die Zerstückelung erfolgreich ins Werk gesetzt. Keine Pfütze aus Haarbüscheln, Knochensplittern und gemahlenem Menschenfleisch hätte in mir dasselbe Grausen zusammenbrauen können wie die von Geisterhand angeordneten Getreidekörper: Die Konturen plump und verzogen, die Augen je ein rundes Korn in der Mitte der Stirn, der Mund eine breite Perlenkette.
Die Jungen wirkten nicht einmal tödlich verletzt, es sah vielmehr so aus, als seien sie durch den Trichter der Mühle missgestaltet in der zweiten Dimension wiedergeboren worden. Wo sich ihre Körper sinnhaft angeordnet haben, wie ein noch lebendes, natürliches Gefüge.
Es beschlich mich der schaurige Verdacht, dass man sie selbst mit einem Besen oder einem Feuerzeug nicht aus ihrem Untod hätte erlösen können und, schlimmer noch, dass diese Jungen wohl auch zu Lebzeiten nicht viel mehr gewesen waren als eine Zusammensetzung aus trockenen Körnern.
Kein Wunder, dass sich ein Kind auffällig verhält, wenn es zur Gänze aus verhextem Weizen besteht. Ich war erleichtert, als sie dann doch in den Därmen zweier dicker Gänse endeten.


Anmerkung von modedroge:

Bruchstück aus einem längeren Text.
Enthält Referenzen (Struwwelpeter, Wilhelm Busch usw).

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Kommentare zu diesem Text

Deek (43)
(10.06.18)
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g.penn (35)
(15.06.18)
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 Dieter_Rotmund (18.04.20)
Ist das so eine Art Splatter-Sci-Fi-Fantasy?

"Die Menschen um mich her"?

 Thomas-Wiefelhaus (24.12.20)
Erschreckend, was manche Eltern Kindern vorlesen. Ich erinnere mich vor allem an HEIDI und Fix und Foxi, und Donald Duck, ich Glücklicher!
Als ich später mal ein altes Heft las merkte ich, dass ich oft an den Selben Stellen dieselben Fragen hatte, wie als Kind.

Ich entsinne mich auch, dass ich mit drei oder vier Jahren unbedingt Lesen lernen wollte, aber meine Mutter mich nicht unterrichten mochte.
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