Sehnsucht nach Premium-Menschen, die bereitwillig sterben und älter als 130 Jahre geworden sind

Text zum Thema Alter

von  Inlines

Immer erst dann, wenn einer starb, wurde er für mich interessant. Vorher hatte ich nie etwas von dem Betroffenen gehört. Trotz aufmerksamer Studie der Bestsellerlisten war ich vorher nie auf diesen in der Tagesschau bekannt gegebenen Namen gestoßen.

Ich klickte mich dann immer durch die Amazon-Bücher des jeweiligen Autors und wählte mir die Sahnestücke aus, die unter den Kennern, die sich in Form von Rezensenten zeigten, als unverzichtbar für Leib und Leben galten. Ich stöberte, ein Glas Wein trinkend, durch die Werke sogenannter Genies, die für viele wohl zu kompliziert und unverdaulich schrieben. Mein Lesegerät war stets ein Kindle, doch auch die digitalen Schriftstücke offenbarten eine Qualität, die mich sehr zu fesseln wusste, oft bis in die tiefe Nacht hinein. Viele Jahre lang hielt ich es so, viele Sterbefälle sorgten für neuen Lesestoff. Es war bereits zu einem Marker geworden, zu einem Ritual, das mich beruhigte und meine Mundwinkel hob - als sich alles ändern sollte.

Ich bin nicht mehr sicher, aber ich glaube es war Hans, der als Erster meines Bekanntenkreises diese Wunderpille nahm. Er war wohl eine der Personen, die an einer großangelegten Studie bezüglich der Wirksamkeit der vollmundig angepriesenen Arznei teilgenommen hatten. Und tatsächlich, plötzlich alterte er nicht mehr. Der Haarausfall stoppte, die begonnene Demenz war nicht mehr nachzuweisen. Und mehr noch: Die Einnahme des Mittels zog eine Entwicklung nach sich, die in der Hochzeit des Leistungsvermögens, in einem kerngesunden Stadium des Körpers mündete.

Die Autoren starben nun nicht mehr. Ihren Platz in den Nachrichten nahmen vielversprechende Neugeborene ein, deren Genmaterial mit weitentwickelter Software ausgewertet worden war. Die Schreiber waren nunmehr keine Verfasser eines großen geistigen Erbes mehr, sondern in der Blüte des Lebens stehende Energiebündel, bei denen noch deutlich mehr kommen konnte, als sie bisher abgeliefert hatten. Alles war flexibel und denkbar. Manche Schnulzenliebhaberin hoffte auf romantische Wälzer bisher eher mit Brutalität aufgefallener Literaturkönner. Einige glaubten an eine Horror-Darbietung der Autorin Eden Rose, die sich mit "Wenn die Liebe endlich schmerzt" in bestimmten Kreisen nachwirkend Gehör verschafft hatte. Und hätte Kafka noch gelebt, wäre es sicherlich noch zu einer Phase des Comiczeichnens oder gar einer Glücksrad-Moderation gekommen.

Natürlich war die neue Situation für viele Menschen toll, vor allem für solche, die unter unheilbarer Krankheit oder Pflegebedürftigkeit gelitten hatten. Aber meine Lektüre des Vermächtnisses war dahin, was mich sehr schmerzte. Und offen gestanden bin ich nicht sicher, ob dieser echte persönliche Schmerz oder jener vermiedene derer, die sich nun bester Gesundheit erfreuten, in Wahrheit schwerer wog. Ich war nicht alleine mit dieser Einstellung. Einige meiner Mitmenschen litten schwer unter den veränderten Verhältnissen und demonstrierten sogar vor dem deutschen Bundestag, um einen Nachteilsausgleich zu erhalten. Vor allem muss ich hier an die Betreiber von Bestattungsunternehmen denken, deren Gewerbe kaum mehr einen Sinn ergab. Die ihren Platz im Leben verloren hatten, weil es nun zu viel des Lebens gab.

Nur wenige Menschen weigerten sich die Pille zu schlucken. Darunter natürlich mein Opa, der schon immer ein Eigenbrötler gewesen war. "Ich will endlich Ruhe vor meiner Frau haben, denn die hab ich die letzten Jahrzehnte schon nicht gehabt" - Ungefähr so drückte er sich aus. Aber auch Sanftmut spielte eine Rolle, als er mir vom Wunsch erzählte bald zu sterben, trotz der Möglichkeiten, die ein Leben mit den jugendlichen Lenden bot. Er meinte, dass er in die Erde wolle, um einem neuen Menschen Platz zu machen. Es die Natur so eingerichtet hätte, weil wir als Menschen so am Besten fahren würden. Und Diktatoren irgendwann die Grenze kennenlernen müssten.
Gerne hätte ich ein Buch von ihm gelesen.

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