Die elfte Tiefebene - Teil III -

Erzählung zum Thema Zukunft

von  BerndtB

Frau Berger war nicht mehr da. Die Wartekabine, in der sie sich befunden hatte, war leer. Die Tür stand offen. Klaus Berger blickte auf seine Uhr: Zwanzig Minuten waren vergangen, seitdem er von hier aufgebrochen war, um schnell die Zutrittsmarke in der Reihe C der Reservierungszentrale zu holen. Ihm war diese Zeit viel länger vorgekommen; er hatte insgeheim schon befürchtet, dass seine Frau nicht mehr da wäre. Aber warum sollte sie nicht mehr da sein? Sie hatte doch keine Berechtigungsmarke – folglich konnte sie in der Reservierungszentrale auch keine Zulassungsmarke für eine Theaterkabine besorgt haben. Und außerdem hatten sie doch ausdrücklich zusammen ins Theater gehen wollen. In die elfte Tiefebene, die ihnen beiden gänzlich neu war.

Klaus Berger zwang sich dazu, klar und logisch zu denken. Nur so konnte er seiner Lage und der wild durch seinen Kopf jagenden Gedanken Herr werden. Schließlich war er darauf geschult worden, Situationen schnell, folgerichtig und eindeutig erfassen zu können. Die hochentwickelte Automatisierung in der Stadt hatte dies zu einer Notwendigkeit werden lassen. Und überdies war es doch wirklich nichts Besonderes, dass seine Frau nicht da war. Jeder war es gewohnt, sich allein zurechtzufinden, viel mehr noch: Man war eigentlich lieber allein als zu zweit. Die Regelung, dass die Restaurants, Transport- und Theaterkabinen fast ebenso häufig als Doppel- wie als Einzelkabinen ausgelegt waren, erschien einer breiten Mehrheit der Bevölkerung sowieso als längst überholungsbedürftig. Die vorwiegend paarweise Lebensführung brachte im Grunde doch mehr Schwierigkeiten und Nachteile als Vorzüge. Man war es nicht gewohnt, tagsüber zu sprechen, ausgenommen vielleicht die Stimmeingabe in Mikrofone mancher Automaten. – Von dieser Art der Nachrichtenübermittlung, so hoch sie vor längerer Zeit auch gelobt worden war, hatte man sich aber wieder mehr und mehr entfernt. Die menschliche Sprache und Stimme war einfach nicht exakt, klar , wohlgesetzt und logisch genug, um von Maschinen immer in eindeutiger Weise erfasst werden zu können. Der Mensch konnte nicht dazu gebracht werden, gleichförmige Laute hervorzubringen, die akustisch klar genug aufnehmbar waren, ohne zu große Schwankungen in der Tonlage zu reden und sich auf ein genau festgelegtes Vokabular zu beschränken, das die Maschine wirklich beherrschte. Mit hochqualifizierten Stimmerkennungsmaschinen hatte man in der Vergangenheit zwar erstaunliche Erfolge erzielen können, bis hin zum fast vollwertigen Gesprächspartner waren Roboter entwickelt worden, aber immer wieder hatte es verheerende Fehler und Missverständnisse gegeben. Ein ähnlich klingendes Wort, falsch ausgesprochen, ein Wort mit doppelter Bedeutung, vom Roboter in der nicht gewollten Auslegung erfasst, hatten zu schweren Rückschlägen geführt. So war man dazu übergegangen, nur noch sehr einfache Maschinen, bei denen nur wenige ganz bestimmte Laute gespeichert waren, mit Stimmeingabe zu bedienen. Viel lieber arbeitete man mit Tastaturen, mit festgelegten Symbolen und Codierungen, die manuell bedient wurden; denn sie waren unmissverständlich, genau und konnten in Komplexen zusammengefasst werden.

Wenn die Sprache aber schon bei Robotern höchster Entwicklung, auf unmissverständliches Verstehen mit allen nur denkbaren Auslegungen programmiert, zu Fehlleistungen führte, wieviel schädlicher war sie dann erst im Verkehr der Menschen untereinander, die alles noch durch den verfälschenden Filter ihrer nicht immer zu unterdrückenden Gefühle aufnahmen…

An all das dachte Klaus Berger im Zusammenhang mit seiner Frau. Ja, er war es wirklich nicht gewohnt, zu sprechen. Er bewegte sich, seinen Körper, seine Finger, Arme und Beine, er benutzte Augen und Ohren, um optische und akustische Signale aufzunehmen und fand sich gut in seiner Umwelt zurecht. Ebenso erging es sicherlich seiner Frau. Doch wenn sie beide zusammen waren, dann überfiel ihn eine Art von Beklemmung. Er fühlte sich manchmal gewissermaßen verpflichtet, mit seiner Frau zu sprechen; langes Schweigen, das doch eigentlich normal und angemessen war, wenn es nichts zu sagen gab oder beide einfach nachdachten, erschien ihm dann als unnatürlich. Dabei war es doch das eigentlich Unnatürliche, sich überhaupt erst in eine solche Situation zu bringen, die die Realität auf den Kopf stellte!

Die den Abbau der Zweierbeziehungen fordernden Stimmen schienen wirklich recht zu haben. Das Leben allein brachte weitaus weniger Schwierigkeiten mit sich – war es schon mühsam genug, eine Person zusammenzuhalten, wieviel anstrengender erschien es, zwei Menschen unter einen Hut zu bringen. Alle Bedürfnisse konnte man allein stillen: Man konnte allein essen, trinken, schlafen, ins Theater gehen, Sex haben. Für den Sex gab es schon lange sehr gute Roboter, die einen besser befriedigen konnten als jeder Mensch. Informationen aller Art, gleich, ob sie allein oder zu zweit aufgenommen wurden, musste man letzten Endes doch allein verarbeiten. In den Kopf, der ja anerkanntermaßen den Menschen ausmachte, konnte niemand, auch kein Lebenspartner, hineinschauen. Und die Erhaltung der Stadtbevölkerung, vielleicht die von der Natur in Vorzeiten gewollte, eigentliche Ursache für das Entstehen von Zweierbeziehungen überhaupt, wurde schließlich schon seit langem zentral gesteuert. Befruchtungen erfolgten nicht bei körperlichem Kontakt, sondern unter medizinischer Aufsicht, gefahrlos für die Mutter, die eigentlich nur noch Eispenderin war, und das werdende Leben außerhalb der der menschlichen Körperhülle.

Kinder traten in der Stadt nicht auf. Sie wurden in speziellen Kinderentwicklungsräumen aufgezogen, mit der Sprache und den Notwendigkeiten für ein späteres Leben in der Stadt vertraut gemacht. Schon frühzeitig wurden sie genetisch untersucht und in verschiedene Klassen eingeteilt. Administratoren, Krieger, Lehrer, Weiterentwickler, Techniker, und viele andere Kategorien wurden gezüchtet. Die Administration der Stadt hatte eine große Kinderbehörde eingerichtet, in der das alles geplant, weiterentwickelt und vervollkommnet wurde. Aber noch war man weit davon entfernt, die perfekten Menschen für die verschiedenen Aufgaben zur Verfügung zu haben. Immer wieder entwickelten sich Kinder anders als gewünscht und vorausgesehen. Ein Hauptproblem war, dass die Kinder Kommunikation verlangten, diese aber in der Stadt eigentlich nicht gewünscht war. Aber ohne Kommunikation wurden die Kinder dumm. Es war schwierig, den Kindern zu vermitteln, dass sie in ihrem späteren Erwachsenenleben weitgehend ohne die unerwünschte Kommunikation klarkommen sollten. Sie wollten immer wieder irgendwelche Gruppen, aber genau das sollten sie eigentlich nicht wollen. Es war schwierig mit den Kindern. Ihre Gene waren noch nicht so, wie die Stadt es benötigte.
Wahrscheinlich würde es noch Jahrzehnte dauern, um die perfekten Kinder zu schaffen.

Und das andere Problem waren die alten Menschen. Alte Leute waren in der Stadt nicht erwünscht. Sie waren uninteressant für die Theater und blockierten das Leben. Die Stadt musste sie rechtzeitig loswerden. Jedem Menschen war klar, dass jeder irgendwann sterben musste. Nur wann und wie, war nicht genau bekannt. Und das war auch gut so. Die Administration hatte Mittel und Wege gefunden, ältere Menschen zu entnehmen, wenn es Zeit für sie war. Anhaltspunkte lieferten Ärzte, Krankenkabinenbetreiber und Apotheken. Sie meldeten alle Daten an bestimmte Stellen. Wenn die Auswertung ergab, dass die betroffenen Menschen nur noch eine Last für die Stadt sein würden, wurden sie entnommen. Auch die Beobachtungsstellen lieferten Daten, ob Menschen sich noch gerade hielten und schnell gingen oder immer langsamer wurden und sich ständig setzen wollten. Ob sie anfingen, Dinge zu vergessen und sich nicht mehr zurechtzufinden, begannen, die Restaurants und die Theater zu vermeiden. Wenn das zu sehr zunahm, folgte die Entnahme nach dem Motto: lieber etwas früher als zu spät. Auch wenn Stadtbewohner nicht mehr arbeiten konnten oder wollten, sich nicht mehr selbst versorgten, bedeutete das schnell das Ende. Ein festes Lebensalter war nicht vorgesehen; es konnten 60, 70 oder 80 Jahre sein, aber mehr eigentlich nicht. Irgendwann waren die Leute verschwunden, und keiner vermisste sie. Hatten sie in Zweierbeziehungen gelebt oder waren sie zu sehr an Gruppen gebunden, dann wurden die Beziehungspersonen notfalls mit entfernt. Trauer war auf keinen Fall erwünscht und wurde unterbunden, so gut es ging. Aber auch in dieser Hinsicht war die Stadtadministration noch nicht perfekt.

Wohin die überflüssigen Menschen verschwanden, war niemandem offiziell bekannt. Die Entnahmeprozesse verliefen weitestgehend automatisiert. Und die auserwählten Mitarbeiter der Stadt, die damit irgendetwas zu tun hatten, waren zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Hin und wieder wurde etwas von der „Wiederverwertung der Biomasse“ zum Wohle der Stadt gemunkelt.

In solcherlei Gedanken versunken, fühlte Klaus Berger, wie Groll in ihm aufkam. Er ärgerte sich über seine Frau, aber mehr noch über sich selbst. Es war doch klar, dass sie nicht mehr da war; sie war ein selbständiger Mensch, wusste sehr wohl, was sie zu tun und zu lassen hatte, und sicherlich war das lange nutzlose Warten auf ihren Mann kein Vergnügen für sie gewesen. Also war sie höchstwahrscheinlich hochgefahren, hatte sich selbst eine Berechtigungsmarke für die Reservierungszentrale beschafft, irgendwo hier die entsprechende Zulassungsmarke geholt, das alles dauerte ja normalerweise nur wenige Minuten, und saß nun irgendwo im Theater. Vielleicht konnte sie ihn gerade sehen und machte sich ein Vergnügen daraus. Vielleicht hatte sie ihn die ganze Zeit beobachten können, während er sich verzweifelt bemüht und beeilt hatte, um den Weg zurück zu finden. Wie lächerlich war er ihr wohl in seiner Hilflosigkeit vorgekommen. Was war er doch für ein Narr! Seit langem schon hatte er bemerkt, wie bei manchen seiner Worte oder Handlungen ihre Mundwinkel spöttisch zuckten. Bei dem Wenigen, das sie sprachen, war es ihm immer öfter erschienen, als hörte er Ironie in ihrer Stimme, ein Überlegenheitsgefühl, das zu verbergen ihr entweder sehr schwer fiel oder sie sich gar nicht die Mühe machte.

Jetzt galt es, Haltung zu bewahren. Er hatte noch eine Möglichkeit, die er nicht verspielen durfte. Falls sie ihm wirklich zusah – und das war immerhin möglich – eigentlich rechnete er nun fest damit, so musste er glaubwürdig darstellen, dass er über der Situation stand. Hilflosigkeit war das Allerletzte, was er sich leisten konnte, es würde ihre Zweierbeziehung unmöglich machen. Eigentlich war dieses Verhältnis ja sowieso schon unmöglich geworden, aber wenn es beendet würde, was ihm jetzt immer unausweichlicher erschien, dann wollte er dies aus einer Position der Stärke und nicht der Schwäche tun. Alles wollte und würde er aufgeben, wenn es sein musste. Und es schien so, als müsste es sein. Um jeden Preis aber musste er seine Lebenskraft behalten. Alles andere käme der eigenen Vernichtung gleich.

Klaus Berger warf einen betont kurzen Blick in die offene Wartekabine, in der sich seine Frau befunden hatte, obwohl er doch schon wusste, dass sie leer war. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er bemerkte, dass der kleine bequeme Stuhl in der Kabine umgeworfen und die Schnur des Kopfhörers, den man sich zur akustischen Unterhaltung in der Kabine aufsetzen konnte, aus der Wand gerissen war. Anscheinend war seiner Frau das Warten zumindest nicht gleichgültig gewesen. Wie es aussah, war er sogar noch in der Lage, Gefühle in ihr wachzurufen und wären es auch nur Gefühle des Ärgers, wenn er sie warten ließ. Plötzlich fühlte er sich erheblich besser, in seiner Person bestätigt und zuversichtlich. Mochte sie ihm doch zusehen! Er lachte und schüttelte den Kopf, während er sich umwandte und eine Transportkabine betrat. Das kleine Vehikel setzte sich rasch und lautlos in Bewegung. Es ging zur nächsten Senkrechtschachtanlage.

*

Horst Jansen und seine Freundin hatten inzwischen verschiedene Situationen in die Theaterkabine projiziert bekommen. Unter anderem hatte es irgendeinen Unfall im Transportmittelsystem gegeben. Zwei Kabinen waren ineinander gefahren. Bei den hohen Geschwindigkeiten, die sie erreichten, führte dies zu ähnlichen Effekten, wie wenn man zwei stehende, rohe Eier seitlich aneinanderschlug. (Ähnlich wie Eier sahen auch die kleinen Transportkabinen aus, nur dass sie oben und unten etwas stärker abgeflacht waren). Von dem Zusammenprall selbst war natürlich leider nichts zu sehen gewesen. Die zentrale Projektionssteuerung schaffte es offenbar immer noch nicht, zu erwartende Unfälle rechtzeitig zu orten und in die Projektion zu bringen. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, Unfälle gezielt und gesteuert zu verursachen, so dass man sich frühzeitig darauf einstellen konnte. Man hörte zwar, dass solche Verbesserungen in der Entwicklung sein sollten, aber Genaueres dazu war nicht bekannt. Die längst überfällige Theaterreform ging überhaupt sehr langsam vor sich. Manchmal hatte man den Eindruck, sie hätte noch gar nicht begonnen. Und die vielversprochenen „Sensationen“, die immer neue Theater angeblich zu bieten hatten, entpuppten sich bei näherem Hinsehen nur allzu oft als Altbekanntes von früher, neu zurechtgemacht. Wenn in dieser Richtung nicht bald etwas geschah, waren ernste Gefahren abzusehen. Ein so hochentwickeltes, kompliziertes und wohldurchdachtes Gemeinwesen wie die Stadt konnte einfach nur bestehen, wenn alle Teile das verrichteten, was ihre Bestimmung war. Und die Bestimmung der Menschen war es, das Räderwerk der Stadt am Laufen zu halten, zu arbeiten, zu wohnen und die Freizeit zu verbringen. Die häufigste Art der Freizeitgestaltung war das Theater, wohl auch die beliebteste. Es bestimmte den Lebensrhythmus und die Lebensgewohnheiten der Menschen dermaßen, dass ein Nachlassen des Interesses daran schlimme Folgen gehabt hätte.

Alle vorhandenen Einrichtungen der Stadt mussten ihrer Bestimmung nach genutzt werden, alles musste abschließbar, dicht, nach außen isoliert sein. Ohne die Transportschächte und -tunnel waren die Ebenen nicht denkbar. Ohne die Ebenen konnte die Stadt nicht existieren, es hätte keine Arbeit, nichts zu essen und nichts zu trinken gegeben. Ohne die verschließbaren Restaurants, ohne hermetisch abgedichtete Wohnungen, Büros und andere Räumlichkeiten hätten die Tarner ihren Sinn verloren und die Enttarner gar nicht erst mit ihrer Arbeit beginnen können. Aber alles dies hatte seinen Ursprung im Theater; die Möglichkeit, alles jederzeit beobachten zu können, rechtfertigte, ja verlangte den Aufbau der Stadt so, wie sie war. Die Tatsache, dass man jederzeit von jedem gesehen werden konnte, macht die Menschen erst zu dem, was sie waren, sie bestimmte ihr Verhalten, ihre Einstellung zu sich selbst und anderen gegenüber. Schauspieler und Betrachter zugleich, so lebten die Menschen ständig im Theater. Und das Theater war die Stadt.

Horst Jansen und seine Freundin sahen also die Folgen des Kabinenzusammenstoßes. Aber die Projektion war undeutlich. Es konnte nicht einmal genau erkannt werden, was aus den zerborstenen Hüllen der Transportbehälter herausquoll. Waren es Überreste von menschlichen Körpern? Dies konnte man allenfalls vermuten.

Außer der Situation nach dem Kabinenzusammenstoß sahen die beiden jungen Zuschauer noch die Projektion eines Vulkanausbruches. Dieser musste außerhalb der Stadt stattfinden, war aber dennoch recht interessant. Der graue Vulkankegel erinnerte fast an eines der mit Schutzmasse überzogenen, alten, oberirdischen Hochhäuser, nur mit dem Unterschied, dass diese etwas grünlicher und mehr kuppelförmig waren. Außerdem hatten sie oben kein Loch. Aus dem Vulkanloch aber brodelte und spie es, eine gelblich glühende, dünnflüssige Masse quoll hervor und lief an dem Kegel herunter. Der Ausbruch musste recht unverhofft und plötzlich gekommen sein; denn man sah in Großprojektion Dörfer am Fuße des Vulkans, aus denen Menschen und Tiere liefen, die teilweise von der schnellfließenden, feurigen Flüssigkeit eingeholt und begraben wurden. Dies ging so schnell, dass sie nicht einmal vorher verbrennen konnten. Die Flammen wurden mit Glut erstickt. Die Häuser, in denen die Menschen gelebt hatten, versanken in der gelbroten Flut.

Es war eine anerkennenswerte Leistung, dass die zentrale Projektionssteuerung den Vulkanausbruch gleichzeitig und direkt in die Theaterkabinen bringen konnte. Anscheinend war man auf das zu erwartende Ereignis schon lange vorbereitet gewesen und hatte rechtzeitig die verdeckten Beobachtungsstationen installieren können. Die Menschen in den betroffenen Gebieten waren natürlich nicht informiert worden; denn das erhoffte Naturschauspiel hätte dadurch viel von seinem Reiz verloren. Die Gewalt der Natur, verbunden mit den unmittelbaren Auswirkungen auf Menschen, mit denen man sich bis zu einem gewissen Grade identifizieren konnte, das machte ja gerade das erregende Erlebnis aus, das nur im Theater geboten wurde.

Szenen wie die genannten vermittelten den Stadtbewohnern immer wieder ein eigenartig prickelndes Gefühl, gemischt aus Lust, Angst und Stolz. Sie fühlten sich wohl im Inneren der Erde, sie lebten im Einklang mit der Tiefe. Die Gluten, die außerhalb der Stadt Leben vernichteten, hatten sie sich längst untertan gemacht. Sie bezogen ihre Energie aus den ungeheuren Hitzereserven des Erdinneren. Und doch war es beeindruckend, wenn man sah, wie die Kräfte, die man selbst gebändigt zu haben glaubte, sich selbstständig machten und, alles verzehrend, eine breite Spur der totalen Vernichtung hinter sich ließen.

Das Beobachten der Geschehnisse aus sicherer Entfernung verringerte die Angst, gewiss auch ein wenig den Reiz. Jeder wusste, dass Vulkanausbrüche oder Erdbeben in der Stadt, ihrer geografischen Lage wegen, so gut wie ausgeschlossen waren. Und alles, was nur die Außenwelt, die Oberwelt betraf, war nicht im eigentlichen Sinne „wirklich“. Aber es war doch eine fesselnde Darstellung, wie die Vulkanszene so deutlich projiziert wurde. Darin stimmten auch Horst Jansen und seine Freundin überein, obwohl sie nicht darüber sprachen.

Die wohl spannendste, aber auch rätselhafteste Projektion sahen die beiden Zuschauer in ihrer teuren Theaterkabine, nachdem der so hilflos umherirrende Mann mit der Theater-Zulassungsmarke in der Hand offenbar seinen richtigen Weg gefunden hatte und aus dem Bild ausgeblendet worden war. Es war ein Geschehnis aus der Stadt. Wo die Sache spielte, konnte man nicht genau feststellen, nur eines war gewiss: Bei der „Hauptdarstellerin“ handelte es sich um eine Frau.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (24.06.18)
Du hast Orwells 1984 noch übertroffen: befriedigendes Sex mit Robotern und das anonyme Sterben als Entnehmen sind unvermutete Perversionen einer unpathetisch dargestellten inhumanen Welt.
Die nüchtern berichtende Sprache passt sehr gut zum Inhalt.

 BerndtB meinte dazu am 24.06.18:
Danke für dieses große Lob. Und das von Ekki Mittelberg! Das ist schon etwas Besonderes. Darauf bin ich stolz.

Jetzt kommt nur noch der vierte Teil. Ich hoffe, dass das Ende nicht enttäuscht. Habe lange darüber nachgedacht.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram