Die elfte Tiefebene Teil IV (und Ende)

Erzählung zum Thema Zukunft

von  BerndtB

Sie saß in einer Kabine am Eingang einer großen Halle, in der sich eine Reihe etwa mannshoher Kästen befand, offenbar irgendwelche Automaten. Man konnte das Innere der verschlossenen Kabine sehen, aber gleichzeitig auch die Halle, in der sie stand. Die Projektion war ohne Ton. Die Frau hatte einen Unterhaltungskopfhörer aufgesetzt. Plötzlich betraten vier Männer die Halle. Dies war sehr ungewöhnlich. Wenn eine solche riesige Anzahl von Menschen, ohne dass der Zweck klar gekennzeichnet war, gemeinsam auftrat, dann konnte es sich hierbei eigentlich nur um Antis oder Angehörige der städtischen Kontrollorgane handeln. Letzteres war im vorliegenden Falle eher anzunehmen, besonders aufgrund der gleichartigen Anzüge, welche die Männer trugen.

Gleichwohl war es ungewöhnlich; denn wenn  man auch wusste, dass die Angehörigen der städtischen Kontrollorgane praktisch die Einzigen waren, die offiziell und grundsätzlich in größeren Gruppen arbeiteten, so taten sie dies doch meist unter Vermeidung jedes Aufsehens, abseits von der Öffentlichkeit. Im Theaterprogramm aber waren sie nie zu sehen! Falls es sich hier also um Beauftragte der Stadt handelte, so musste ihre Aufgabe eine ganz besondere sein. Dies zeigte auch ihr weiteres Verhalten. Sie gingen auf die kleine Kabine zu, in der sich die Frau befand. Jetzt sah man die Frau nicht mehr in der Projektion, sondern nur noch die Halle, die Kabine, von der man wusste, dass die Frau darin war und die Männer. Schon waren die Männer an der Kabinentür. Sie machten sich an der Tür zu schaffen.

Horst Jansen und seine Freundin konnten nun sehen, wie die Männer anscheinend versuchten, die Kabine von außen zu öffnen. Die Rufanlage hatten sie nicht betätigt, so dass die in der Kabine befindliche Frau von innen nicht öffnete. Jetzt erschien in der einen Hälfte der Bildprojektion auch wieder die Frau. Man konnte sehen, wie sie mit geschlossenen Augen und angezogenen Beinen dasaß, wobei sie die Knie mit beiden Händen umfasst hielt. Den Unterhaltungskopfhörer hatte sie immer noch aufgesetzt. Von dem, was außerhalb der Kabine geschah, schien sie nichts zu bemerken.

Horst Jansen hatte zunächst keine Erklärung dafür, was die ganze Szene überhaupt darstellen sollte. Es musste aber etwas Interessantes sein, wenn es in die Theaterprojektion gesteuert wurde. Außerdem war anzunehmen, dass die Sache von äußerster Wichtigkeit war. Die Abgeschlossenheit eines Einzelraumes war das höchstgeschützte Gut in der Stadt, die Lebenssubstanz der Menschen. Diese Abgeschlossenheit durfte nur zum Zwecke des Beobachtens durchbrochen werden und dies auch nur von Enttarnern, aber eine gewaltsame, physische Öffnung erfolgte nie. Außerdem durfte der Mensch, der sich abgeschlossen hatte und neue Lebenskraft aufnahm, niemals bemerken, wenn er beobachtet wurde.

Was hier jedoch geschah, war strengstens untersagt. Es konnte sich daher nur um Verbrecher aus den Reihen der Antis oder um offizielles Einschreiten der städtischen Gewalt handeln. Verbrecher aber konnten es nicht sein; denn da es in die Theaterprojektion gesteuert wurde, hatten die offiziellen Stellen ja Kenntnis davon, und diese wären gegen das Verbrechen eingeschritten. Außerdem sahen die Männer irgendwie zu „amtlich“ aus, als dass sie den Antis zugerechnet werden konnten. Wenn man also davon ausging, dass es sich um städtische Bedienstete handelte, dann  lag sicherlich höchste Not vor, die sie zwang, in diesem besonderen Falle den Frieden der menschlichen Abgeschlossenheit zu brechen. Dies wäre auch eine Erklärung für die Steuerung in die Theaterprojektion gewesen. Vielleicht war die Luftzufuhr in die Kabine gestört, das alte Problem im unterirdischen Stadtleben, dessen man noch nie ganz Herr geworden war. Vielleicht traten auch giftige Gase aus, die die Frau gefährdeten. Hiergegen sprach aber das Bild der Frau, die man ja gleichzeitig sah. Sie machte einen sehr gesunden und frischen Eindruck und atmete regelmäßig. Möglicherweise konnte die Kabine aus irgendeinem Grunde im nächsten Moment explodieren. Unwahrscheinlich erschien diese Annahme aber angesichts der offenkundigen Sorglosigkeit, mit der sich die Männer an der Kabinentür zu schaffen machten. Ja, sie schienen vergnügt dabei zu sein.

Immer rätselhafter wurde die Angelegenheit für Horst Jansen und seine Freundin. Mit einem Ruck rissen die vier Männer die Tür der Kabine auf. Das ganze Geschehen war jetzt in einem großen Bild vereint. Die Augen der Frau weiteten sich vor Erschrecken. Zwei Männer standen links und zwei rechts von der Tür. Sie steckten nur die Köpfe in die Türöffnung, wobei der jeweils nächst zur Tür stehende Mann etwas in die Knie ging und der Entferntere sich halb vor und halb zur Seite beugte. Für die Frau in der Kabine musste es so aussehen, als hingen nur vier Köpfe dort, wo die Tür gewesen war. Von den übrigen  Körpern sah sie nichts. Die Männer sprachen  kein Wort. Bei der Projektion ohne Ton wäre das sowieso nicht zu hören gewesen; aber man sah, dass die Männer den Mund nicht bewegten. Die Frau in der Kabine streckte, wie abwehrend, die Hände mit nach vorn geöffneten Handflächen und gespreizten Fingern  in Richtung der Tür, dann zog sie die rechte Hand zurück und entfernte damit den Unterhaltungskopfhörer.

Immer noch sprachen die Männer kein  Wort, griffen jetzt aber langsam mit den Händen um die Kante der Türöffnung. Erst starrte die Frau wie gelähmt in Richtung Tür, ihr Mund öffnete sich wie zu einem Schrei, den man nicht hören konnte. Dann wich sie, wieder beide Arme ausgestreckt, zurück, bis zur Wand, hatte hierfür in der winzigen Kabine aber kaum 1,5 Meter Raum. Der kleine Stuhl, auf dem sie geruht hatte, fiel um.

Langsam streckten die Männer die Hände und die Arme in die Kabine hinein. Auf ihren Gesichtern war ein fratzenhaftes, aber doch eigentümlich ausdrucksloses Lächeln zu sehen. Immer noch sprachen sie kein Wort. Die Frau schien nun aber etwas zu sagen, schnell bewegte sich ihr Mund, ging auf und zu, formte Laute, ihr Hals war lang gestreckt, man sah, wie sie schluckte, ihre Augen rollten hin und her., ihre Hände bewegten sich, wie fragend, dann wie in Abwehr, nach vorn. Doch zu  hören war nichts. Und wie man sah, kam auch kein Laut über die Lippen der Männer. Sie hatten nun die Arme ganz in die Kabine gestreckt, die Oberkörper folgten.

Die Männer, die nächst zur Tür gestanden hatten und schon etwas in die Knie gegangen waren, knieten nun vollends und streckten die Hände in Richtung der Frau aus, an dem kleinen, umgefallenen Stuhl vorbei. Die beiden anderen Männer schoben sich weiter in die Kabine und griffen bedächtig nach den Oberarmen der Frau. Diese hatte ihre Arme zurückgezogen, flach drückte sie sich an die Kabinenwand, die ihr kein Entkommen ermöglichte. Die Arme hielt sie seitlich ihres Körpers an die Wand gepresst. Ihr Mund formte keine Laute mehr. Er war nur weit geöffnet. Ihr Kinn und die Lippen zitterten. Ab und zu sah man die Zungenspitze. Etwas Speichel floss aus ihrem linken Mundwinkel.

Die Hände der Männer griffen zu. Jeweils eine Hand der knienden Männer griff an die Waden, die andere an die Oberschenkel, fast in Höhe des Gesäßes, die Hände an den Waden zogen die Beine nach vorn und nahmen der Frau den Halt. Sie fiel jedoch nicht; denn jeweils eine Hand der stehenden Männer hielt ihre Oberarme gepackt, während die beiden anderen Hände sich unter ihren Rücken legten. Die knienden Männer zogen ihre Beine nun langsam aus der Kabine heraus, der Unterkörper der Frau folgte. Ihr Oberkörper schwebte jetzt in der Luft, von den beiden stehenden Männern getragen. Die knienden Männer erhoben sich und hoben Beine und Unterkörper der Frau mit hoch. Ihre Gesichter waren nach vorn, den Füßen der Frau zugewandt. Die stehenden Männer, die inzwischen ganz in die Kabine hineingeglitten waren, hoben die Frau nun in Schulterhöhe, wie auch die Männer vorn. Jetzt befand sich die Frau zur Hälfte inner- und zur Hälfte außerhalb der Kabine.

Während sie bisher wie gelähmt, gewissermaßen als Zuschauer miterlebt hatte, was mit ihrem Körper geschah, ging nun ein Ruck durch diesen, und er straffte sich. Arme und Beine zuckten, sie warf den Kopf hin und her, aber die harten Griffe der vier Männer lockerten sich nicht. Sie schickten sich vielmehr an, die Frau vollends wegzutragen. Während sie aus der Kabine herauskam, spreizte sie noch einmal ihre Finger, die rechte Hand griff im Vorbeistreifen die herunterhängende Schnur des Unterhaltungskopfhörers, krampfte sich daran fest und riss sie aus der Wand. Dann öffnete sich die Hand, die herausgerissene Schnur fiel zu Boden, und schlaff hing der Körper der Frau in den Armen der sie wegtransportierenden Männer.

Eine Vermutung stieg in Horst Jansen auf: War die ganze Sache etwa beabsichtigt? Geschah dies alles nur deshalb, um in das Theater projiziert werden zu können? Möglich war es. Dann wäre die Theaterreform aber schon weiter vorangekommen, als man es allenthalben vermutete. Dann mussten die vier Männer Theaterschöpfer sein, von denen man als geplante Berufsgruppe zwar schon gehört hatte, aber überall der Meinung war, dass man auf sie noch lange würde warten müssen. Es kam wieder Leben ins Theater; die Administration schlief nicht.

Wenn die gezeigten Männer Theaterschöpfer waren, und je mehr Horst Jansen darüber nachdachte, desto weniger zweifelte er daran; dann versprach das Schauspiel interessant zu werden. Aber da blendete das Bild vorerst aus, und andere Geschehnisse wurden gezeigt, die Situation nach dem Kabinenzusammenstoß und der Vulkanausbruch.

*

Klaus Berger verließ die fünfte Tiefebene. Der Senkrechtschacht, in dem es in rasender Fahrt nach unten ging, führte bis zur neunten Ebene. Diese hatte er auch als vorläufiges Ziel eingegeben, da er offenbar nicht auf direktem Wege in die elfte Tiefebene gelangen konnte. Sicherlich würde er umsteigen müssen.

Die Türen der Transportkabine öffneten sich. Klaus Berger befand sich in der neunten Ebene. Er las die angebrachten Hinweisschilder. Einige zeigten nach links, den Gang entlang und bezogen sich anscheinend auf Orte innerhalb der neunten Tiefebene. Die Transportanlagen zu tieferen Ebenen befanden sich rechts. Nach wenigen Schritten stand er vor zwei Schachttüren, eine mit „10“ und eine mit „11 – 17“ gekennzeichnet.

„17 Tiefebenen?“ dachte er. Noch nie hatte er davon gehört, dass sich die Stadt so weit in die Tiefe ausdehnte. In den ersten vier Tiefebenen spielte sich das Leben normalerweise ab; einige Einrichtungen befanden sich in der fünften. Jenseits davon gab es Wohnungen für die Reichen, verschiedene teure Restaurants und Theater, städtische Versorgungseinrichtungen. Es war bekannt, dass es ungefähr 10 Tiefebenen sein mussten, aus denen die Stadt bestand. Natürlich gab es noch die Energiegewinnungsanlagen, die in die Tiefe der Erde hineinreichten, aber hier stand Klaus Berger vor einem Transportschacht, der auf mindestens 17 Ebenen hinwies. Dabei war er schon erstaunt gewesen, als er von dem „neuen Theater“ in der elften Tiefebene gehört hatte.

Er drückte auf einen Knopf an der Schachtanlage – nichts geschah. Dann sah er eine Schrift unterhalb des Knopfes aufleuchten und einen Pfeil. „Zutrittsmarke einführen“ war zu lesen. Wieder wunderte sich Klaus Berger. Dies war äußerst ungewöhnlich. Normalerweise konnte man alle Transportmittel in der Stadt ohne besondere Zutrittsberechtigungen benutzen, natürlich auch kostenfrei. Gewiss gab es einige, nicht jedermann zugängliche Verbotszonen, die den städtischen Aufsichtsbehörden vorbehalten waren, aber von Ebene zu Ebene konnte man überall ungehindert gelangen. Zutrittsmarken für bestimmte Einrichtungen wurden immer erst am entsprechenden Ort benötigt. Aber schon hier? Dies musste doch aber auch bedeuten, dass alle Ebenen unter der elften Tiefebene, also, wie hier angegeben, bis zur 17., nicht mehr ohne weiteres erreicht werden konnten. Demnach war ja fast der größte Teil der – bekannten – Stadt nicht frei zugänglich!

Grübelnd in derlei Gedanken vertieft, hatte Klaus Berger die Zutrittsmarke inzwischen in den dafür vorgesehenen Schlitz eingeführt, die Marke, die eigentlich ihm und seiner Frau einen angenehmen Theaterabend hatte bescheren sollen. Nun war er alleine gekommen.

Eine Kabinentür öffnete sich. Klaus Berger trat hinein. Er wollte in gewohnter Weise die Steuerungstastatur betätigen, aber es gab keine. Lautlos schloss sich die Tür, und ohne sein Zutun glitt die Kabine in abwärtiger Richtung. Die Kontrollanzeige allerdings war vorhanden. Nach wenigen Augenblicken war die Zahl „11“ zu erkennen.

Die Kabinentür öffnete sich. Klaus Berger trat heraus, um sich nach dem rechten Weg umzusehen. Es gab aber nur einen. Ein röhrenförmiger Gang mit glatten Stahlwänden, matt erleuchtet, führte nur in die linke Richtung. Rechts befand sich lediglich eine glatte Wand. Klaus Berger lief den Gang entlang. Verwundert war er darüber, dass die Stadt hier unten sauber zu sein schien. Vom üblichen Schmutz und Unrat, der sonst überall vorhanden war und viel zu selten beseitigt wurde, war hier nichts zu sehen. Nicht einmal die Spinnen und Insekten, die den Menschen in den oberen Ebenen manchmal arg zu schaffen machten und die trotz aller technischen Fortschritte nicht ausrottbar zu sein schienen, gab es hier.

Er kam auf seinem Weg an Türen vorbei, augenscheinlich gehörten sie zu Transportkabinen, aber irgendetwas erschien anders als in den gewohnten Ebenen der Stadt. Klaus Berger überlegte, und dann fiel es ihm ein: keinerlei Steuerungseinrichtungen waren an den Türen hier zu sehen, keine Knöpfe oder Tastaturen, keine kleinen Schlitze, die zu Mikrofonen gehörten. Nicht einmal die üblichen Lämpchen, in verschiedenen Farben unterschiedlicher Bedeutung leuchtend, waren vorhanden. Die Türen waren kahl und glatt und nicht zu bedienen. Eigentlich waren sie nur dadurch als Türen zu erkennen, dass man sie etwas in die Röhrenwand eingelassen hatte und feine Spalten ringsherum auf ihre Beweglichkeit hindeuteten. Wenn aber die Türen hier unten nicht zu bedienen waren, dann mussten sie überwacht und zentral gesteuert werden, so dachte Klaus Berger. Dann konnte ihn seine bereits vor dem letzten Senkrechtschacht eingegebene Zutrittsmarke also auch nur zu dem von ihm gewünschten – oder für ihn bestimmten – Theater führen.

Dies alles versetzte ihn mehr und mehr in Erstaunen. Hatte er wirklich so wenig von der Stadt und ihren Einrichtungen gewusst? Wussten andere davon? Oder wurde das Wissen darum den Menschen vorenthalten? Aber warum und wozu? Waren sie nicht alle Teile der Stadt?

Klaus Berger lief weiter. Der Gang gabelte sich.  Aber auch an dieser Stelle gab es kaum eine Entscheidungsmöglichkeit: Links führte der Gang ins Dunkel. Schon nach wenigen Metern war nichts mehr zu sehen. Irgendeinem plötzlichen Impuls folgend, war Klaus Berger dennoch versucht, in diesen Gang zu treten, aber dann wandte er sich nach rechts. Dort war es erleuchtet, und an einer der Türen brannte ein kleines Licht. Diese Tür war für ihn bestimmt. Er trat davor; ohne, dass es eines weiteren Zutuns von ihm bedurft hätte, öffnete sie sich. Er trat ein und befand sich wieder in einer kleinen Transportkabine, auch diese ohne Steuerungseinrichtungen. Nach einer kurzen, lautlosen Fahrt und vielleicht zwei Minuten anschließenden Wartens, das ihm aber fast endlos erschien, öffnete sich die Tür, und Klaus Berger stand vor dem Theater.

Eine riesige Halle sah er vor sich mit einem grünlich schimmernden, glatten Kuppelbau in der Mitte. Völlige Stille herrschte. Er hörte seine eigenen Atemzüge. Langsam lief er um die Kuppel herum. Selbst sein Laufen verursachte keinerlei Geräusch, auch nicht, als er absichtlich etwas fester auftrat Das ebenfalls, wie die Kuppel, nur etwas dunkler als diese, grünlich schimmernde Material des Fußbodens, fest und nachgiebig zugleich, schien jedes Geräusch zu ersticken.

Viele kleine Türen, hinter denen sich offenbar die Theaterkabinen befanden, waren am Boden der Kuppel ringsherum angebracht, alle verschlossen. Auch hier gab es keine Einrichtungen zum Öffnen. Nicht einmal die Kontrolllämpchen deuteten, wie ansonsten in Restaurants oder Theatern üblich, darauf hin, ob die Kabinen besetzt oder frei waren. Klaus Berger ging weiter um die Kuppel herum. Da sah er eine Tür, die weit offenstand. Warmes, einladendes, gelbliches Licht drang heraus. Er wusste, es war seine Theaterkabine.

*

Klaus Berger trat in sein Theater. Geräuschlos schloss sich hinter ihm die Tür. Ganz still war es. Er war allein und fühlte sich geschützt und geborgen. Das warme, gelbliche Licht umflutete ihn. Es war nicht grell, sondern angenehm, aber gleichzeitig allgegenwärtig. Er hatte den Eindruck, dass er in diesem Licht gebadet würde. Klaus Berger beschaute die Kabine. Ein Ruhesessel war zu sehen, sonst nichts. Wieso war da nur ein Sessel? Dies erschien ihm merkwürdig. Er hatte doch ursprünglich das Theater mit seiner Frau zusammen besuchen wollen und eine Doppelkabine ausgesucht. Auch hatte er an der letzten Senkrechtschachtanlage die Zutrittsmarke für die Zwei-Personen-Kabine eingeführt. Daraufhin war er zielgerichtet, so hatte er jedenfalls den Eindruck gehabt, in diese Kabine geleitet worden. War dies vielleicht gar nicht seine Kabine? War sie einem anderen Menschen zugedacht, dessen Platz er hier einnahm? Hätte er, als der Gang sich vorhin gabelte, den dunklen Weg betreten und nicht dem Licht nachgehen sollen?

Wenn dies aber die für ihn vorgesehene Kabine war, so hatte doch niemand wissen können, dass er seine Frau unterwegs sozusagen „verloren“ hatte. Oder doch? Was war überhaupt noch sicher? Ein Gefühl des Schauderns stieg an seinem Rücken auf. Sein Gehirn arbeitete. Er fügte Fakten zusammen, zog Schlüsse, und sein Gefühl der Unsicherheit verstärkte sich. Er rekapitulierte den Ablauf des Tages: Nachdem er und seine Frau gegen Mittag im abgeschlossenen, sicheren Restaurant davon gesprochen hatten, dass sie eines der neuen Theater besuchen wollten, war er zur Theaterinformation gegangen. Dann hatte er zwei Berechtigungsmarken für die Reservierungszentrale gelöst, mit den eingegebenen Codes von sich selbst und seiner Frau. Und dann? Dann hatten schon seine „Irrwege“ begonnen, angefangen von den unerklärlichen Schwierigkeiten beim Wiederfinden der Reservierungszentrale und dem Verschwinden seiner Frau. Aber irgendwie, so schien es ihm, war seit dieser Zeit alles zielgerichtet abgelaufen.

Klaus Berger wurde es immer unheimlicher zumute. Er zwang sich jedoch zur Ruhe und setzte sich in den Sessel. Plötzlich leuchtete ein bläuliches Licht in der Mitte seiner Kabine auf. Die Theaterprojektion begann. Erst war alles verschwommen, dann formten sich Umrisse und eine Gestalt wurde sichtbar. Es war seine Frau. Sie stand in einer Kabine, die offenbar auch eine Theaterkabine war. Regungslos starrte sie in die Mitte ihres Raumes. Sie war noch so gekleidet, wie Klaus Berger sie verlassen hatte, lediglich ein Träger ihres Kleides war abgerissen, und ihre Frisur erschien etwas aufgelöst. Frau Berger sah vor sich eine Projektion. Sie sah ihn. Und Klaus Berger sah, dass sie ihn sah. Er blickte an sich herunter und stand aus seinem Sessel auf. Und er sah, wie seine Frau sah, dass er aufstand. Und er sah sich, inmitten seiner Kabine, in verkleinerter Form, selbst aufstehen.

Auch die Projektion seiner Frau war etwas kleiner als ihre natürliche Größe, ebenso, wie seine Frau ihn nur verkleinert sehen konnte. So erblickte er sich in seiner eigenen Kabine als Zwerg, der ihm kaum bis an die Schultern reichte und all seine Bewegungen gleichzeitig nachvollzog. Dieser Zwerg wiederum sah seine Frau, in noch verkleinerter Form, die ihn betrachtete, als wieder kleineren Zwerg, und so fort. Das ganze Bild verlor sich in der Winzigkeit in einem schimmernden bläulichen Licht, in dem alle Umrisse nach und nach verschwammen. Die ersten, größeren Exemplare des Ehepaars Berger waren aber klar und deutlich zu erkennen.

Alles war vollkommen lautlos. Klaus Berger ging um die Projektion, um das dreidimensionale Bild in der Mitte seiner Kabine, herum, und alle Zwerge gingen mit. Er sah seine Frau von allen Seiten. Jetzt schaute er ihr in das Gesicht, wobei er gleichzeitig auf die Rücken aller seiner verkleinerten Ausführungen blickte. Und seine Frau, in vielfacher Version, eine kleiner als die andere, betrachtete die Zwerge. Klaus Berger hörte nur seinen eigenen Atem. Den seiner Frau hörte er nicht. Immer noch blickte er sie an. Er wollte etwas zu ihr sagen, sein Mund öffnete sich, aber er fand kein Wort.

*

Host Jansen und seine Freundin sahen in der Mitte ihrer teuren Theaterkabine den Mann wieder, der sich vor einiger Zeit in den Transportanlagen verirrt hatte. Nicht ganz klar, aber dennoch gut erkennbar, sahen sie ihn in vielfacher Ausfertigung, eine kleiner als die andere.

Sie sahen auch die Frau, die von den vier Männern aus der kleinen Kabine geschleppt worden war, in vielfacher Ausfertigung, eine kleiner als die andere.

Und sie sahen, wie die beiden ihre gegenseitigen Bilder anblickten.

Leise nahm Horst Jansen die Hand seiner Freundin in die seine.

*

Klaus Berger sah, wie seine Frau die Hand nach ihm ausstreckte. Er wollte zu ihr hingehen, doch trat er nur in das Projektionsbild, wurde geblendet und musste die Augen schließen. Er lief zur Kabinenwand und suchte die Tür, aber er konnte sie nicht mehr finden. Alles außerhalb der Projektion war nur in das warme, gelbliche Licht getaucht, das ihn umflutete und jetzt etwas dunkler als vorher erschien. Kein noch so winziger Spalt in der Kabinenwand verriet die Stelle, an der er eingetreten war. Mit seinen Fäusten trommelte er gegen die Wand, aber sie schluckte jedes Geräusch und war von unerbittlicher und doch nachgiebiger Festigkeit. Sein Atem ging schneller. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Rote Ringe tanzten vor seinen Augen. Mit zitternden Händen nahm er sich eine Zigarette, nach Luft ringend, obwohl dies in den Theaterkabinen eigentlich verboten war. Er zündete sein Feuerzeug an, das nur ein winziges Flämmchen von sich gab. Das Flämmchen wurde immer kleiner und verlosch.

Klaus Berger sah in das Gesicht seiner Frau. Noch immer schaute sie ihn an, die Hand leicht ausgestreckt. Da erblickte er die Tränen, die ihre Wangen hinunterliefen. Er öffnete den Mund und rief nach ihr, er schrie ihren Namen. Aber er hörte nur ein grelles, irrsinniges Pfeifen.

Dann hörte er nichts mehr.

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