Ein Mann geht den Strand entlang

Erzählung zum Thema Unsicherheit

von  toltec-head

"Ein Mann geht den Strand entlang und sieht einen Käfer auf dem Rücken zappeln. Mitleidig bückt er sich und hilft dem Insekt liebevoll auf die Beine - und sieht zwei weitere strampelnde Exemplare. Er bückt sich noch einmal, richtet die Tiere auf, sieht zehn weitere, stutzt, bückt sich wieder - wendet den Kopf und stellt fest, dass der ganze Strand bis zum Horizont mit Käfern auf dem Rücken bedeckt ist; er läuft schreiend davon."

Auch wenn es rational aus dem Fortgang der Geschichte heraus nicht begründbar ist,  erscheint das erste Bücken und Helfen des Mannes auch am Ende doch noch vollkommen richtig. Oder etwa nicht?

Gestern abend sprach ein Mann aus den Städten
An der Gasthaustür
Er sprach auch mit mir.
Er redete von Gerechtigkeit und vom Kampf für Gerechtigkeit
Und von den Arbeitern, die leiden,
Und von der nicht endenden Arbeit und von denen, die hungern
Und von den Reichen, die dem nur den Rücken kehren.

Und als er mich ansah, bemerkte er Tränen in meinen Augen
Und lächelte zufrieden, denn er glaubte, ich fühlte
Den Hass, den er fühlte, und das Mitleid,
Das er zu fühlen behauptete.

(Doch ich hörte kaum hin.
Was kümmern mich die Menschen
Und was sie leiden oder zu leiden vermeinen?
Seien sie wie ich – dann leiden sie nicht.
Alles Übel der Welt rührt daher, dass wir uns einer um den anderen kümmern.
(...)

Ich aber dachte,
Als der Menschenfreund sprach
(Und das rührte mich zu Tränen),
Wie sehr doch das ferne Geläut der Herdenglocken
In dieser Abendstunde
Nicht den Glocken einer kleinen Kapelle glich,
In der Blumen und Bäche
Und schlichte Seelen wie ich zur Messe gingen.

Fernando Pessoa, Der Hüter der Herden XXXII. (Auszug)

Wenn Klonovsky in seinem Tagebuch vom 14. Juni 2018 (https://www.michael-klonovsky.de/acta-diurna/item/890-14-juni-2018) dieses Zitat in einen Kontext mit Merkels Flüchtlingspolitik stellt, es sozusagen Gutmensch-Politikern sämtlicher Couleur entgegenschleudert, erscheint dies genauso falsch, naiv und gefährlich, wie wenn Grüne sich auf die Bergpredigt berufen. Gefährlich nicht nur für die Politik, in der Ethik selbstverständlich wie in Marketing-Abteilungen von Unternehmen auch eine Rolle spielen kann oder sogar muss, sondern auch für das Gedicht, das auf einen rein individuellen Bewusstseinszustand zielt, die innere, von außen nicht auch noch extra zu befestigende  Burg, von der aus man dann helfen oder es aber eben auch bleiben lassen kann. 
 
Therefore, if you let me guide you, go in at this south door of the Cathedral, (and put a sou into every beggars´s box who asks it there, - it is none of your business whether they deserve to have the sou, - be sure only that you yourself deserve to have it to give; and give it prettily, and not as if it burnt your fingers).

John Ruskin, The Bible of Amiens

Zitat, an das sich Proust erinnert, als er die Kathedrale von Amiens besucht. "Heureux de pouvoir commencer si vite à suivre les prescriptions ruksiniennes, j´allai avant tout leur faire l´aumône...", "Froh sogleich die guten Ratschläge Ruskins in die Tat umsetzen zu können, fing ich erst einmal damit an, Almosen zu geben...".

Wenn ich eine Kirche besuche, denke ich oft an beide Zitate und gebe Bettlern am Eingang aus Prinzip in aller Regel NIEMALS etwas.

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Kommentare zu diesem Text


 Augustus (06.07.18)
Das sich Beschweren über die Wellen, die ein in das Wasser eingeworfener Stein verursacht hat, die nun Mal dem physikalischen Gesetz folgen, die das Boot, das bisher in Ruhe und Gemütlichkeit dahin segelte, plötzlich ins Wanken bringen, ist unverständlich, weil nur der Folge der eigentlichen Ursache Beachtung geschenkt wird.

Ave
Graeculus (69)
(06.07.18)
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