das Orakel von Delphi

Text zum Thema Mythisch

von  Augustus

Sors tua mortalis: nonest mortale, quod optas.
Dein Los ist das eines Sterblichen:
Was Du begehrst, ist jedoch nichts Sterbliches.
Ovid
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Das Orakel von Delphi existierte bereits seit prähistorischer Zeit und war zuerst der Erdgöttin Gaia geweiht und dann später dem Apollon. Es heißt, dass die Priesterinnen nach der Schlange Python, die von Apollon getötet wurde, als  Pythien genannt wurden. Auf dem Höhepunkt der Zeit war der Apollontemepel in Delphi das Zentrum des Heiligtums Griechenlands und war zwischenzeitlich als „Nabel der Welt“, angesehen. Eine Inschrift, die über dem Eingang des Tempels geschrieben war, lautete: „Erkenne dich selbst.“
Die Überbleibsel der Heiligstätte eröffneten sich seinen neugierigen Augen, nachdem er den Berg Parnass vom Campingplatz zu Fuß mühevoll bestiegen hatte. Die Sonne schien so früh morgens  schon stark genug. Der aus Leinen gefertigte Sommerhut mit einer grünen Schleife um die Seite, den er auf dem Kopf trug und seit jeher mit auf Reisen mitzunehmen pflegte, schütze ihn von den Sonnenstrahlen. Den aus Seide, braunen Halstuch trug er um den Hals, den er bei solchen Gelegenheiten gerne an sich hatte und den Rucksack, der um seine Schultern hing und am Rücken baumelte, hatte ihm bei seinen Abenteuern verlässliche und bisher unerlässliche Dienste geleistet. 
Die herumliegenden Blöcke aus Steinen auf der Landfläche, die nur die Spur des ganzen Tempels wiedergeben konnten, entfachten bei der ersten Berührung mit seiner Vorstellung, das vollkommene Bild des Gebäudes. Der große Rest, der vom Pantheon fehlte, baute sich sein Geist auf. Halb von der Realität, halb von der Phantasie ergriffen, erwachte plötzlich das Orakel von Delphi in seinem Innersten zum Leben auf. Er nahm seine Tasche von der Schulter ab, zog in einem Bogen am Reisverschluss, bis sie sich öffnete, nahm den Zeichenblock, den Bleistift, den Radiergummi heraus und setzte sich auf die umliegende Mauer, von der Absicht geleitet, das, was durch die Zeit vom Orakel noch übrig da lag, abzuzeichnen. Er langte in seine Tasche und nahm ein Prisma heraus, das er hinstellte, und bald in eine und bald in die andere Richtung justierte, bis es in der Weise richtig stand, dass sich das Sonnenlicht in ihm brach und nach außen hin auf die Maueroberfläche einen Regenbogen warf. Diese prächtigen gemischten Farben, die aufgebrochen wurden und so sich das sonst unsichtbare Licht in seine Schönheit seinen Augen zeigte, riefen ihm in Erinnerung; dass die Luft und Alles in Farben getaucht seien. Die Erde schien ihm selbst ein Ort zu sein, unter dessen Fläche ein riesgroßer Regenbogen den Raum erfüllte, wie denn in einer Schneekugel, die geschüttelt wird, der aufgewirbelte Schnee ihr Inneres ausfüllt.
Als er zeichnete, vergaß er sich und alles um ihn herum, war verschwunden. Seine volle Konzentration galt dem Umriss des Orakels zu prämilinieren und bald als er diesen richtig getroffen hatte, würde er in die Details übergehen. Es hatte nicht all zulange gebraucht bis dem Gegenstand seiner Wahl eine gewisse Dignität herauswuchs, demnach bemühte er sich desto mehr durch sein scharfes Herantasten mit seinem Blick das Verborgene, das der verfallene Tempel preisgab, angemessen auf dem Papier zu behandeln. Wer selbst einer Zeichnung nachgegangen ist, weiß, wie aus Minuten Stunden werden. Das Bild entwickelte einen progressiven Gang. Nach und nach wurden die unscharfen Konturen des Orakels deutlicher, mit jeder Korrektur, mit jedem Redigieren, seine Form präziser, die Körper von Steinen und Säulen, lebendiger. Ab und zu warf er den Blick auf den Regenbogen, der sich von Zeit zu Zeit entlang der Mauer mit der Bewegung der Sonne, bewegte.   
Das Prisma stand aufrecht auf dem Mauerwerk und eigenartigerweise, als er dahin schaute, schloss das farbenprächtige Licht, das selbst aufgeschlossen wurde, plötzlich unvermutet in seinem eigenen Herzen eine Welle von ungeahnten Empfindungen auf. Es gab ein richtiges Durcheinander. Man weiß sich diesen seelischen Vorgang nicht zu erklären, er war halt da. Gleich einem Projektor projizierte der Geist durch die Fülle der gedrängten Gefühle im Herzen auf die Leinwand der Realität, das einst in seiner höchsten Blüte dagewesene und verschwundene Orakel von Delphi in der lebendigsten Erscheinung wider, als ob die Zeit zurückgereist wäre, um aus der Vergangenheit den Tempel in die Gegenwart herzuholen.             
Er erblickte die Pythia, die Priesterin, in Trance auf einem Dreifuss sitzen, die den Kopf hin und her bewegte, während Rauchschwaden aus einem kleinen Loch im Boden im Raum entstiegen. Den Raum, in dem geopferte Tiere und allerlei Geschenke untergebracht wurden, sah er, genauso lebendig wie die Priester, die in der Vorhalle mit den Bittstellern standen, die aus entfernten Ländern angereist waren, an dieselben mit ihren Wünschen heranzutreten, um die Prophezeiung zu hören, die die Priester von der Pythia weiterleiteten, die mit Apollon in Verbindung stand, damit sie erfuhren, ob die eigenen Absichten, die sie sich für die Zukunft vorgenommen haben, unter guten oder schlechten Sternen standen, um dann die eigene Handlung für die Zukunft nach der Auflösung der Weissagung auszurichten. 
Seine Hand führte den Bleistift, wie von einer fremden Kraft geleitet, die elegantesten Schattierungen aus, so dass zuletzt eine bemerkenswerte Zeichnung auf dem Papier entstand. Er betrachtete sein Kunstwerk mit der äußersten Zufriedenheit, weil es ihm auf eine unerklärliche Weise gelungen war, ein Bild anzufertigen, das über sein eigentliches eigeschränktes Talent hinaus ragte, und so fühlte er auch die Freiheit, die sich über seinen Horizont breitmachte, wenn sich jemand selbst plötzlich bei einer Sache übertrifft, von der er ausgegangen war, hinter ihren Grenzen zu bleiben.
Die Zeit war unbemerkt vergangen, die Abendröte überstrahlte nun mit rubinroten Blutspuren die Wolken, die wie glasierte Kirschbonbons glänzten und auf der Himmelszunge schwebten, während im letzten einfallenden Sonnenstrahl über der Hecke Mücken tänzelten, und unweit von Flecke entfernt die Grillen zirpten. Eine ungeheure Sehnsucht packte ihn, die nirgends sich entladen konnte, und erstreckte sich in alle Richtungen, als wollte sie etwas Fremdes, Unbekanntes, das weit in der Ferne lebt, zu sich in die Nähe heranziehen. Vergebens! Die Sehnsucht kehrte erfolglos in ihre Stätte zurück.
Es war die Zeit gekommen, sagte er sich, da sich die Nacht über dem Orakel senkte, eine wunderliche Sache zu praktizieren, die er sich aus einem Buch angelesen hatte. Seinen Zeichenblock und die Utensilien legte er zurück in den Rucksack und stattdessen griff er nach zwei dicken, runden Kerzen.  In den offenen Kreis des Orakels, in den Raum, in welchem die Pythia ihre Nachrichten von Apollon empfing, setze er sich unter einem Kissen, das er aus der Tasche herausnahm und stellte nebeneinander die beiden Kerzen hin. Er griff erneut in seine Tasche und holte einen mittelgroßen viereckigen Spiegel raus, den er vor sich aufstellte, während zwei Halterungen den Spiegel an seinen Seiten vom Umfallen sicherten. Den Hut, den er die ganze Zeit trug, nahm er vom Kopf ab und legte ihn beiseite. Mit einem Feuerzeug zündete er die Kerzen an. Sie erleuchteten den Spiegel, während die Nacht immer düsterer und stiller wurde. Die ersten Sterne erblickten das Leben, der Mond blieb weiterhin aus der Sicht. Er erblickte im gelben Schein der Kerzen sein Gesicht im Spiegel und konzentrierte seine Gedankenkraft auf die Vorstellung von Pythia, die, wenn der Mythos vom „Mirror Gazing“ wahr sei, sich im Spiegel zeigen sollte. Eine halbe Stunde verstrich, nichts passierte. Der Spiegel reflektierte sein Gesicht weiterhin. Eine Stunde war vergangen und es hatte sich auf der Spiegelfläche nichts geändert. Unerschrocken und geduldig starrte er weiterhin darauf, während über das Orakel von Delphi eine Totenstille sich gelegt hatte. Nur irgendwo zwischen den Bäumen der Eule langgezogener, heulender Rufklang zerschnitt das Schweigen der Nacht. 
Seine Sinne ließen vom Spiegel ab und kreisten bald um den Rufklang der Eule, der ihn nach und nach seiner Konzentration entfernte, so dass sein Spiegelbild vor seinen Augen verschwamm: er wurde ganz Ohr.
Abrupt erstickte die kühler werdende Finsternis den Schrei der Eule, als im flammenzüngelnden Spiegel eine unscharfe Erscheinung in der Ferne sich zu bewegen schien, die mit jedem Schritt stets näher kam und bei jedem weiteren Schritt immer größer und deutlicher die ganze Gestalt zu erkennen war. Ein kurzer Schreck zuckte durch seine Glieder. Ein Gespenst zieht auf, ein Dämon schleicht sich an ihn heran, dachte er sich. Doch dem Schreck wich die Ruhe bald. Ein aus Seide grüner, gestickter Himation bekleidete den Körper, der elegant herunter hing und eine Kapuze verdeckte sowohl das Gesicht der Person. Es wurde aber doch bald deutlich, nach der Körperform zu urteilen, insbesondere der kurvenförmigen Hüfte wegen, dass es sich um eine Frau handeln müsse. Die Person kam nun so nah, dass nur der Kopf zu sehen war. Sie hob beiden Hände und griff nach der Kapuze und zog diese herunter, so dass sich das Gesicht in aller Deutlichkeit zeigte. Noch nie in seinem Leben sah er eine so überirdische Schönheit im Gesicht einer Frau, das ohne Makel war. Die blonden Haare kräuselten sich bis zu den Schultern und die blauen, milden, stechenden Augen blickten in geradeaus an.
Er erkannte in ihr die Pythia, die glorreiche Priesterin, die mit einem Gott in Verbindung stand. Die Vorstellung, dass das „Mirror Gazing“ funktionierte, das es möglich ist mit den Toten in Berührung zu kommen, überwältigte ihn. Er wandte sich an Pythia und sagte einen Satz auf Latein. Sie erwiderte einen Satz, den er nicht richtig verstand, denn sie sprach ein dialektreiches Latein in einer Mundart, die er nie zuvor gehört hatte. Doch ihren Lippen entflog die sanfteste Stimme, die von jedem Missklang bereinigt war. Wie lange dieser Zauber aufrecht bleiben könne, wusste er nicht, er wusste aber, dass man von der Pythia eine Weissagung erhalten könne, wenn man ihr seinen innigsten Wunsch verrät, ob denn dieser mit der Meinung der Götter übereinstimmen würde. Also offenbarte er ihr, mehr schlecht als recht, in lateinischer Sprache, seinen Wunsch. Sie erwiderte kein Wort, was ihn beängstigte. Allein, als er anfing zu fürchten, sein Verlangen würde von Apollon zerschmettert und zurückgewiesen werden, zeichnete sich auf dem Mund das glücklichste Lächeln einer Frau, die schweigend ihm den Beweis lieferten; er möge weiter seinen Weg fortsetzen, denn dieser wird von Erfolg gekrönt sein.
Stimmen aus unmittelbarer Umgebung drängten sich auf. Er erwachte und stellte zu seiner Verwunderung fest, dass er geschlafen hatte, also folglich bei seinem Versuch „Mirror Gazing“ zu praktizieren, eingeschlafen sein müsste. Wenn es auch so sein möge, dass er geschlafen hatte, dachte er sich, es war für ihn das Erlebte kein Traum. Die Morgenröte war nicht minder ein gekonnter Maler als die Abendröte. Die Anwesenheit zweier Menschen hatte ihn gestört. Er sah zu ihnen herüber und fand in ihnen ein verheiratetes Paar aus Amerika, wie er es an der Sprache erkannte. Er räumte seine Sachen in die Tasche ein und beeilte sich den Berg runter zu gehen. Die Armbanduhr zeigte sieben Uhr, genügend Zeit, um den Bus, dachte er sich, nach Athen zu bekommen.
Am Flughafen von Athen angekommen, stieg er aus und fand eine Menschenmenge vor sich, wie Ameisenhaufen , die bald in reihen kamen und zerstreut weggingen.
Er setzte seinen Sommerhut auf, griff nach seiner Tasche, schwang sie über die Schultern und schlenderte in die Massen hinen und war bald unter ihnen verschwunden.

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Kommentare zu diesem Text


 Pearl (16.02.22, 08:48)
Hallo Augustus,

Mythisch und mystisch ist dein Text, und so überzeugend stimmungsvoll, dass ich mir vorstelle, es wäre wirklich passiert.

Das vorangestellte Zitat von Ovid: so schön wie wahr.

Liebe Grüße, Pearl

 Augustus meinte dazu am 16.02.22 um 13:39:
Ich glaube mich erinnern zu können, dass ich 2018 vermehrt mich mit dem Licht beschäftigt habe - außerdem mit Newton und Goethes Farbenlehre, ebenso mit der griechischen Mythologie sowie der Orakelstätte Delphi, und zuletzt mit der amerikanischen Literatur hinsichtlich der Nahtoderfahrung. 
Am ehesten haben die Nahtoderfahrungsliteratur sowie die Historie von delphi auf den Text eingewirkt. 
Abrupt endete meine Neugier für das Thema mit der Anschaffung des „tibetanischen  Totenbuchs“ und dem einlesen von ca 20 Seiten. 

Seitdem sucht der umtriebige Geist sich neue Nahrungsquellen. 
Zur Zeit: Philosophie und Ornithologie. 

Salve

 Pearl antwortete darauf am 16.02.22 um 19:08:
Vom "Tibetanischen  Totenbuch“ habe ich nur circa 5 Seiten gelesen :)

Schön, dass du ein neugieriger Mensch bist! Es gäbe soo viel zu lernen...

Salve

 Augustus schrieb daraufhin am 17.02.22 um 13:10:
Da ich unter den unzähligen Büchern weiß, welche ich noch nicht gänzlich durchgelesen habe, habe ich sie im Hinterkopf, sie bei Laune und Muße doch wieder mal aufzuschlagen. Insbesondere, weil ich glaube, das Interesse am Tod von Jahr zu Jahr mal mehr mal weniger variiert. 

Dazu sagen kann ich, dass die amerikanischen Bücher über Nahtoderfahrung sehr spannend sind. Dabei kommt u.a. zum Ausdruck, dass in Griechenland es auch Totenkulte und Totenstätten gab, deren Ruinen ebenfalls besucht werden können.
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