Glücklich Sein ist relativ

Kurzgeschichte zum Thema Glück

von  eiskimo

Ireen ist glücklich. Hat sie mir gestern noch gesagt. Dabei sah sie überhaupt nicht glücklich aus. Glücklich, so sah sie letztes Jahr aus. Da hatte ich sie mehrfach auf den Wochen- oder Flohmärkten der Umgebung angetroffen. Ireen betrieb da einen Stand mit selbst gemachter Marmelade. Sehr gute Marmelade, die auch guten Absatz fand. Als stolze Köchin und Verkäuferin lachte, gestikulierte, verhandelte die 50jährige intensiv mit ihren Kunden, trotz schlechter Deutschkenntnisse. Und da auch ich Käufer bei ihr wurde und fast an jedem Wochenende bei ihr etwas kaufte, freundeten wir uns an.
Ich erfuhr, dass Ireen nach ihrer Scheidung Hals über Kopf ihre Heimat England verlassen hatte und nach Deutschland übergesiedelt war, zusammen mit ihrem Jugendfreund Roger. Zusammen konnten sie sich ein kleines Häuschen leisten – mit großem Garten. In  dem wuchsen so viele Beeren und Obst, dass Ireen damit ihr kleines „Business“ aufbauen konnte: Eigene Marmelade kochen, und Wochenmärkte beschicken.
An ihrem Häuschen kam ich regelmäßig vorbei, und als ich sie einmal vorn am Gartentor traf, bat sie mich spontan herein in ihr kleines Reich: Ein geradezu professionell angelegter Nutzgarten mit sortengerechten  Hochbeeten, Spalierobst-Reihen und ausgetüftelter Bewässerungsanlage. Diese „hardware“, das habe alles Roger aufgebaut. Wo sie ihr Glück gefunden habe, das sei die Küche. Und was für eine Küche! Fast 15 Tausend Euro habe sie da investiert für diesen hochmodernen Arbeitsplatz mit Stellagen, top Beleuchtung, Kupertöpfen, Sterilisierofen und, und, und.
Da war Ireen glücklich. Begeistert hatte sie mir bei dieser Begegnung auch angkündigt, dass sie fortan auch Chutneys und Lemon Curd anbieten wollte. Und ich durfte von ihren ersten Test-Gläsern gleich ein paar mitnehmen. Klar, dass auch ich begeistert war und ihren Tatendrang und Mut zu wieder etwas Neuem ausdrücklich lobte.
Danach sah ich Ireen längere Zeit nicht mehr. Ich hatte im Ausland zu tun, war einige Monate lang weg. Als ich zurückkehrte, traf ich sie auf den Wochenmärkten nirgends mehr an. Dann schaute ich bei ihnen selber nach und es schien mir gleich, dass Ireen und Rogers  Haus merkwürdig verwaist aussah. Vielleicht sind sie nun auch mal für längere Zeit verreist, dachte ich, möglicherweise nach England.
Gestern habe ich dann einfach mal an der Haustür geklingelt. Seit gestern weiß ich, dass die Beiden nicht verreist sind. Nein, Roger hatte einen Schlaganfall, und das ziemlich bald schon nach meinem Besuch. Seitdem ist er Pflegefall. Ireen pflegt ihn. Sie schaffe das, beteuerte sie. Und sie habe damit einen Full-Time-Job, Sie käme kaum mehr raus. Keine Zeit für Marmelade. Aber: Sie sei glücklich. Ich fand, sie sah überhaupt nicht glücklich aus.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (29.07.18)
Handwerklich in Ordnung, aber mir persönlich zu rührselig.

 eiskimo meinte dazu am 29.07.18:
Wenn rührselig auch heißt, dass es Dich berührt, wäre es doch was...
cu
eiskimo (fast eisfrei)

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 29.07.18:
Nein, das heisst es leider nicht. Sondern eher sentimental und/oder gefühlig, vielleicht auch weinerlich. Diese Begriffe sind zu rührselig sinnverwandt, der Duden gibt auch "empfindsam" an, was ich wenig passend finde.

 niemand (29.07.18)
Zu wissen ob ein anderer glücklich ist, das ist meiner Meinung nach eine sehr heikle Sache. Erstens kann man in keinen hineinsehen, somit spekuliert man letztlich nur. Zweitens gibt es keine allgemeinen Maßstäbe für Glück. Glück ist immer eine Idee, welche sich der Einzelne davon macht, oder zu machen in der Lage ist. So wie jede Art zu leben immer eine Idee ist, ganz besonders die zivilisatorische Art zu leben ist eine Idee, denn die Natur kennt nur ein Glücklichsein und dieses ist: Essen verdauen, ausscheiden bummsen und natürlich sich vermehren, wobei das Bekämpfen des Konkurrenten auf den Gebieten mit einbezogen ist. Leben nach reinem Lustprinzip. Aber das weiß jeder, der schon mal darüber nachgedacht hat. In obiger Geschichte meine ich, dass der Schreiber seine Idee vom Glück auf die Protagonistin überträgt und diese Idee heißt: Erfolgreich sein im "kleinen Business" [mit Marmelade] und weil diese der Betreffenden scheinbar nicht gelungen ist, wähnt er sie unglücklich. Mag sein, sie ist es tatsächlich, mag sein es scheint nur so. Eines trifft es auf jeden Fall und zwar die heutige Idee
vom Glücklichsein und diese heißt : Beruflicher Erfolg macht
immer glücklich [besonders Frauen] und sei allem anderen vorzuziehen. Eine für mich ziemlich kapitalistische Idee, mag sie anderen auch anders und richtig vorkommen.
Mit lieben Grüßen, niemand
Marjanna (68) schrieb daraufhin am 29.07.18:
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 eiskimo äußerte darauf am 29.07.18:
Die kapitalistische Idee sehe ich da nicht so, wenn auch Erfolg beim Verkaufen der Stimmung sehr gut tut. Aber Ireen hatte mit Roger ein schönes Projekt,das sie beide trug...
Dass Glück kein Dauerzustand ist, unterschreibe ich sofort. Und Zufriedenheit angsichts harter Herausforderungen, das würde mir auch schon reichen.
Danke jedenfalls für Eure intensive Stellungnahme !
lG
eiskimo (der in der Hitze fast wegfließt- das nächste Pseudonym wird klimaverträglich!)
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