Was genau ist Obdachlosigkeit, fragte ich Pierre.

Skizze zum Thema Selbstbild/Selbstbetrachtung

von  blauefrau

Was genau ist das?, fragte ich Pierre, der sagte, er sei obdachlos, als ich ihn dabei erwischte, wie er in einer Kneipe mein Bier austrank. Ich gab ihm jeden Tag vier Euros, damit er mir täglich von einem Internetcafé aus seine E-Mails zuschicken konnte.
Obdachlos zu sein, bedeutet Dreck und Hunger, schrieb mir Pierre. Gegen den Hunger bettle ich  an, manchmal stehle ich auch etwas Geld aus Opferstöcken, nur damit ich mir ein wenig Brot und ein Bier kaufen kann. Gegen den Dreck hilft wenig. Ich fühle mich in meinem Dreck auch nicht ganz unwohl: er ist meine Schutzhaut. Ich zeige, ich bin dreckig, dann lässt man mich in Ruhe. Gibt es einen Schutzheiligen des Drecks? Alle zwei Wochen gehe ich zur Obdachlosenunterkunft in Feuerbach, um dort zu duschen. Ich hatte schon Zecken, die mir lauter rote Flecken und ein großes Jucken eingebracht haben, die dusche ich ab, wenn´s geht. Ich bräuchte jemanden, der mich laust, entzeckt, mir die Geschwüre mit einer Salbe einreibt. Ich bräuchte eine Symbiose mit Marie, doch die will nicht mehr.  Ich hätte so einen Frauenhass, sie könne mich nicht mehr riechen. Weiterhin werde ich wohl unter der Brücke hausen müssen, mit Plastik, mit Tüten, mit den anderen Plastiktütenhanseln. Ist das eine Symbiose?
Beim Betteln erregt mich das Klimpern der Münzen, der Klang beim Aufprall in meine Kappe. Und ich sehe, wenn ich sie betrachte, nicht nur Zahl und Kopf, ich denke auch daran, wer die Münzen unter Mühe so kunstvoll hergestellt hat, an den Handel im Mittelalter, an die Fugger in ihren schönen Gewändern.
Ich mache mir eine Strichliste über die Kontakte, die ich jeden Tag hatte, zähle die Worte, die Menschen zu mir sagen oder gegen mich ...

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Kommentare zu diesem Text

Iphigenie (38)
(30.10.18)
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 EkkehartMittelberg (30.10.18)
Ich verstehe die historische Erinnerung an die Fugger als einen Hinweis darauf, dass auch Akademiker in die Obdachlosigkeit abrutschen.
Unabhängig von der originellen Gestaltung hätte ich deinen Text empfohlen, weil das Thema Obdachlosigkeit in der Regel nur zu Weihnachten aufgegriffen wird.
LG
Ekki
Iphigenie (38) meinte dazu am 30.10.18:
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 blauefrau antwortete darauf am 30.10.18:
Hallo, Iphigenie,
ich verstehe dich so, dass je bedeutender die Stadt ist, umso mehr Interesse Lesende auf das Thema bzw. die Problematik richten. Ich denke mal darüber nach. Stuttgart bzw. Stuttgart - Feuerbach ist jedenfalls auch nicht ganz unbekannt.
Herbstlich rotbunte Grüße blauefrau
Iphigenie (38) schrieb daraufhin am 30.10.18:
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 blauefrau äußerte darauf am 30.10.18:
Ja, da habe ich mich wohl geirrt.
Mich interessieren auch die Brüche im Leben anderer. Doch welches Leben verläuft schon "glatt"?
Iphigenie (38) ergänzte dazu am 30.10.18:
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wa Bash (47)
(30.10.18)
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bbx (68)
(31.10.18)
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 niemand meinte dazu am 31.10.18:
@ bbx
Bei der Thematik Bettler/Obdachlos ist man immer gleich
bemüht Mitleid etc. zu verströmen.
Ich habe [unter anderem] mal Situationen erlebt, welche mir
gänzlich jede "rosarote Sicht" nahmen: Ein Obdachloser stand an eine Würstchenbude gelehnt, ein Würstchen kauend und den sich im Fettdunst abmühenden Verkäufer beschauend. Nach ein paar Bissen sprach der leicht Angetrunkene [wie sagt man so schön: Alkohol löst die Zunge] zum Verkäufer: "Ganz schön blöd, das was Du hier am Tag verdienst, bekomme ich in einer Stunde" ...
Ein zweites Mal Folgendes: Ein paar Schulkinder, idealistisch veranlagt, sammelten vor einer Imbissbude ihr karges Taschengeld zusammen, kauften eine Backkartoffel mit Quark
und gaben diese einer Bettlerin. Ich ging eine Stunde später
zwangsläufig an jener nochmals vorbei und siehe da,
die Kartoffel gammelte vor sich hin, in den Dreck geschoben.
Das nur nebenbei und als zwei von vielen Beobachtungen.
Damit das Mitgefühl realistisch bleibt. LG niemand
Iphigenie (38) meinte dazu am 01.11.18:
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 Dieter_Rotmund (31.10.18)
Stuttgart-Feuerbach?

 blauefrau meinte dazu am 01.11.18:
Feuerbach ist ein Stadtteil von Stuttgart. Denkennen wahrscheinlich nicht alle, Stuttgart voraussichtlich viele.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 02.11.18:
Guten Morgen.

Ja, aber wieso nimmst Du gerade das betulich-bürgerliche Stuttgart-Feurbach als Handlungsort? Ich war schon ein paar Mal dort. Obdachlose habe ich keine gesehen.

 blauefrau meinte dazu am 03.11.18:
Also ich kenne Feuerbach als Standort der Telekom in einem Wohngebiet.In
der Naehe war ein Einkaufszentrum, und dort sah ich auch Obdachlose.

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 03.11.18:
Nun ja, das will ich ja gar nicht bestreiten. Aber wäre nicht - für die Qualität der Geschichte - die Wahl eines anderen Ortes, den man vielleicht eher mit Obdachlosigkeit verbindet, besser?

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 05.03.19:
Hallo?
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