Die Nation, wie wir sie heute kennen, die wir so gerne emotional auffüllen, ist keine natürliche Entwicklung. Noch heute streiten sich die Historiker, ob das 2. deutsche Kaiserreich (1871-1918) ein Staatenbund, oder ein Bundesstaat war. Allein die Tatsache, dass man darüber streiten kann, weil der Befund nicht eindeutig ist, ist eigentlich ein Zeichen dafür, dass es kein Bundesstaat war. Dafür gibt es - jenseits von Prozessen und Systematiken - auch jede Menge kleiner Hinweise. So war das "Pfund" in den unterschiedlichen Landesteilen des deutschen Kaiserreichs unterschiedlich schwer. Die Verwirrung war so groß, dass seine Benutzung als Gewichtsangabe schließlich verboten wurde. Ironischerweise führte das offizielle Nichtbenutzen" dazu, dass die Deutschen sich auf 500 Gramm einigen konnten. Als das "Pfund" noch in Gebrauch war, war das nie möglich gewesen. Niemals hätten Bayern auf das bayrische, Sachsen auf das sächsische, oder Preußen auf das preußische Pfund verzichtet.
Das änderte sich erst im Ersten Weltkrieg. Das Deutschland in jener Zeit eng zusammenwuchs, bestreitet kein Historiker. Doch auch das geschah nicht sofort. So ist z.B. der deutsche Vormarsch im Sommer 1914 auch geprägt von starken Animositäten zwischen den preußischen und sächsischen Generalen. Und die Bayern konnten es gar nicht ertragen, dass sie auf dem linken Flügel stillhalten sollten. Das weder der Kaiser noch die OHL (Oberste Heeresleitung), obwohl beiden das Problem bekannt war, eingriffen, hatte zwar nicht nur, aber auch damit zu tun, dass sie sich nicht in der Lage sahen, das regional geprägte Denken ihrer Untergebenen(!) zugunsten eines "Deutschseins" zu unterdrücken.
Interessant ist, was als sichtbares Zeichen des beginnenden Zusammenwachsens Deutschlands begriffen wird: Die Gründung der "Kriegsrohstoffabteilung" am 15. August 1914. Das war der Beginn einer vereinheitlichten verwaltungstechnischen Führung Deutschlands. Entscheidungen wurden von nun an direkt für das ganze Reich getroffen. Und mit dem Ausbau der "Kriegsbürokratie" betraf das auch nicht nur die Herstellung von Waffen und Munition im eigentlichen Sinne. Durch das sogenannte "Hindenburgprogramm" von 1916, wurden die Gewerkschaften zum ersten Mal institutioneller Gegenpart der Arbeitgeber. Das, was heute "Sozialpartner" genannt wird, wurde damals zum ersten Mal gesetzlich verankert.
Es ist erstaunlich: Heute, Gestern Vorgestern! Das Geschimpfe auf die Bürokratie - übrigens unabhängig davon, wie schnell ihre Mühlen mahlen - ist etwas, was die Menschen über Grenzen und Zeiten hinweg verbindet! Und da spielt es auch keine Rolle, ob man jeden Tag mit der Bürokratie zu tun hat, oder der der Steuereintreiber nur ein Mal im halben Jahr vorbeikommt und sagt: "Gib mir sofort nen Sack Getreide, Bitch!" (Hazel Brugger) Und diese fürchterliche Bürokratie soll die Gebärmutter der Nation sein?
Ich fürchte, die Antwort darauf lautet: Ja.
Das ist auch eigentlich gar nichts Neues. All diese emotionalen Augenblicke und historischen Momente und Persönlichkeiten, von denen wir schwärmerisch glauben, sie würden die "Geschichte der Nation" ausmachen, stehen auf einem Sockel aus Papieren und Anordnungen. das ist jedoch nicht verwunderlich. Es ist nicht der Glaube an die Nation, die uns zusammenhält. Es sind die Gesetze und Vorschriften. Wenn dein Nachbar links ein Pfund mit 456 Gramm veranschlägt, du mir 481 Gramm und dein Nachbar rechts ebenfalls mit 481 Gramm, mit wem machst du dann Geschäfte? Natürlich mit dem, bei dem du nicht dauernd umrechnen musst. Wobei das bei drei handelnden Personen ja noch irgendwie gehen würde. Aber was ist, wenn du 20 Nachbarn hast? Kann man das dann noch alles regeln, ohne sich die Köpfe einzuschlagen, oder wenigstens "Betrug!" zu rufen?
Nun kann natürlich auch ein Dorf mit 20 verschiedenen Gewichtseinheiten bestehen. Doch wenn im Nachbardorf alle die gleiche Einheit verwenden, wird sich sehr schnell zeigen, dass dieses Dorf mehr Wohlstand erreicht, allein weil es in diesem Bereich keine Reibungsverluste erleidet. Allerdings klappte die Vereinheitlichung im Nachbardorf auch nicht von allein. Auch dort schlug man sich lange den Schädel ein und rief "Betrug!". Doch irgendwann wurde den Nachbardörflern klar - oder es wurde ihnen von ihrem Fürsten schwertschwingend klar gemacht -, dass es so nicht weiterging. Also legte man Regeln fest. Und weil Menschen Menschen sind und Menschen wissen, dass "freiwillige Selbstverpflichtungen" nichts bringen - es sei denn, diese kommen von großen Unternehmen, dann sind die super, fragt mal die Herren Bosbach oder Gabriel - wurden die Regeln aufgeschrieben und ein Regelhüter eingesetzt.
All das habe ich mir nicht ausgedacht. All das ist auf dem Gebiet, dass wir heute "Deutschland" nennen, passiert. Es begann im frühen Mittelalter. Es zeigte sich, das solche Regeln Vorteile boten. Bis dahin verließen sich die Fürsten bei der Verwaltung ihrer Reiche und Reichleins auf ihre Gefolgsleute. Die meisten davon waren niederer Adel und wurden "Ritter" genannt. Weil diese jedoch auch gleichzeitig für den Kriegsdienst verantwortlich waren, handelte es sich meist um raue Gesellen. Das war auch kein Problem und genügte völlig. Bis jemand auf die Idee kam, die Regeln niederzuschreiben. Ritter konnten vieles. Aber eines konnten sie nicht: schreiben. Also benötigte man dafür andere Menschen, Menschen die des Schreibens mächtig waren. Zu Beginn waren es hauptsächlich Geistliche und auch wenn der Anteil der Geistlichen in den fürstlichen Verwaltungen immer hoch blieb, misstrauten die Fürsten diesen doch. Denn für wen arbeiteten diese letztlich? Die (damals noch viel mehr als heute) machtbewusste Kirche oder den Landesherren? Also brauchte man eigene Leute. Diese erhielten die Bezeichnung "Ministrale". Sie wurden vom Fürsten bezahlt und ihre Loyalität galt nur ihm. Die Ritter - spätestens mit Beginn des 15. Jhd auch militärisch obsolet geworden - brauchte niemand mehr. Die Ritter verschwanden. Darum gibt es in Deutschland auch kaum noch "alten Adel" und die Wenigen, die es gibt, urinieren auch schon mal gerne in der Öffentlichkeit. O tempora, o mores!
So entstanden die ersten Territorialstaaten. Denn sah man es schwarz auf weiß, begriffen auch des Lesens unkundige Fürsten - also: um die 90% - das besser war keine Flickenteppich zu beherrschen. Lustig wurden Länder und Flächen getauscht. Der historische Begriff dafür lautet "Flurbereinigung". (Den findet man heute nur mehr in der Raumplanung.) Den Menschen - sprich: den Bauern, denn die machten 99% der Bevölkerung aus - war all das meistens gleich. Der Steuereintreiber kam ein oder zwei Mal im Jahr vorbei und wenn man Pech hatte das Presskommando für den Heeresdienst - in den meisten Jahren hatte man damals Pech -, das sich die die jungen Männer holte, auf dass sie sich vor den Toren einer Festung todschlugen. Wer da der Auftraggeber war, spielte eigentlich keine Rolle. Viele Menschen lebten ständig zu nahe an der Hungergrenze und überhaupt: Macht sich heute ein Deutscher Sorgen um einen nordkoreanischen Provinzgouverneur? Nein, natürlich nicht. Viel zu weit weg von unserer Lebenswirklichkeit (auch wenn die meisten von uns heute nicht mehr hauptsächlich Breie essen müssen).
So oder so: Das System stand. Die Staaten wurden immer moderner = hatten immer mehr schriftliche Regeln. Die Welt veränderte sich dramatisch. Jahrzehntausendelang existierten die Gesellschaften als nichtschriftliche Systeme. Selbst die Helden der Antike - Griechen und Römer - leben in in einer unschriftlichen Zeit. Gesten und Symbole zählten. Das der Westfälische Frieden, der das Massaker des Dreißigjährigen Krieges beendet, nur aus Gesten bestanden hätte? Undenkbar im 17. Jhd. Und wer könnte sich heute noch vorstellen, nach dem Tanken mit einem halben Sack Bohnen zu bezahlen, zwei Streifen Pökelfleisch als Ausgleich zu erhalten - Ich tanke doch nicht für nen ganzen halben Sack Bohnen! Bin ich denn verrückt! - und ohne Quittung zu verschwinden? Niemand!
Was wollen uns diese Worte sagen:
Nein! Jeder der will, darf jubeln, wenn die deutsche Nationalmannschaft gewinnt. Jeder darf auch weiter Deutsch sprechen. Man muss nicht Englisch können. Man muss auch nicht irgendeine Mundart beherrschen. Aber jedem sollte klar sein, was die Nation ist: Sie ist eine Ordnungsstruktur. Eigentlich ist sie auch niemals mehr gewesen. Das Emotionale versucht man uns nur zu verkaufen, damit wir für die Nation sind. Es ist eine Art Selbsterhaltungstrieb der Nation, ausgedacht von der jeweiligen Werbeabteilung: Deutschland, da weiß man, was man hat. Guten Abend. Je nach politischer Absicht, kann man es auf kleinere (die Eifel) oder größere Systeme (Europa) übertragen. Die Nation war die längste Zeit NICHT das, was das Leben der Menschen bestimmte. Noch "der große deutsche Reichskanzler" Bismarck fühlte sich durch und durch als preußischer Edelmann. Und da haben wir auch schon das Problem. Die Nation existiert in unserem Denken hauptsächlich in Gefühlen. Dass das dann so wirr werden kann, wie es sich anhört, ist nicht überraschend.
Die Nation ist das Ordnungsprinzip unserer Zeit. Darum müssen wir dieses System und damit die Nation akzeptieren, in der realen Welt und als Konstrukt. Wir sollten sie jedoch nicht überhöhen. Wir müssen nicht fragen, was wir für die Nation tun können. Der Mensch steht im Mittelpunkt. Der Mensch. Nicht als Bayer. Nicht als Sachse. Nicht als Preuße. Nicht als Deutscher. Als Mensch. Nicht als Ordnungsprinzip.