Bertram 2

Kurzgeschichte zum Thema Zuneigung

von  IngeWrobel

Sie war wieder da. Gleich als die Tür sich öffnete, aber noch niemand zu sehen war, wusste, spürte, wünschte er, dass sie es wäre: Ursula.
Ursula, die Tochter, die er sich gewünscht hätte, wäre seine Ehe nicht kinderlos geblieben. Der gute Geist, den ihm nur Frieda geschickt haben konnte. Sie musste im Himmel mit jemandem gesprochen haben, und nun schickte man ihm diesen Engel. Hätte er einen Wunsch zur Namensgebung äußern können, wäre seine Wahl natürlich auf „Angela“ gefallen. Aber so war es auch gut und er freute sich, dass es für ihn nun überhaupt jemanden gab. Dankbar und voller Liebe begrüßten seine alten Augen Ursula, als sie in den Aufenthaltsraum trat.

Ursula spürte die Augen des alten Mannes, der sie, seit sie das Frühstückszimmer betreten hatte, freundlich ansah, und ihr entging nicht das Strahlen in seinem Blick. So, als käme sie, um ihn zu besuchen – als wäre sie keine Fremde, sondern seine Tochter. Lächelnd nickten sie sich zu.

Bereits als Ursula ihren Vater zum ersten Mal im Seniorenheim besuchte, war ihr dieser alte Mann aufgefallen. Er saß allein in einer Ecke des Aufenthaltsraumes dicht am Fenster, wegen des natürlichen Lichts, und las. Als Ursula damals mit ihrem Vater Bertram und Schwester Irene den Raum betrat, hatte der Mann seine Augen von dem Buch gelöst und ihr direkt ins Gesicht geschaut. Und dann geschah etwas, das sie früher schon ähnlich erlebt hatte: Die Augen trafen aufeinander, versenkten sich in die des anderen und konnten nicht loslassen, während sich ein Lächeln auf beiden Gesichtern ausbreitete.
Konnte es sein, dass dieser alte fremde Mann sich auf den ersten Blick in sie verliebt hatte? Ursula war eine kluge Frau und wusste, dass es Liebe ohne körperliches Begehren gab. Sie selbst hatte als kleines Mädchen eine starke Liebe zu einem erwachsenen Mann entwickelt, die ihr Herz ganz ausfüllte. Sie hatte damals nur einen Wunsch: Sie wollte möglichst oft in seiner Nähe sein.
Warum sollte es diese unschuldige Art der Liebe nicht auch im Alter geben? Wird nicht oft gesagt, dass wir uns im Alter gefühlsmäßig zurückentwickeln und manchmal und in manchen Situationen wieder zu Kindern werden?
Auch sie mochte den Mann. Jeder war sich der Sympathie des anderen bewusst und war froh darüber. So fielen Ursula die Besuche im Heim nicht allzu schwer. Ihr Vater war bereits so fortgeschritten dement, dass er sie manchmal nicht mehr erkannte. Dann tröstete sie der liebevolle Blick des fremden alten Mannes, das Lächeln und Kopfnicken, das sie einander schenkten.

Als der Mann in seinem ersten wachen Moment nach dem Schlaganfall im Krankenhaus die Augen aufschlug, wusste er, bevor sich die Zimmertür nach dem Anklopfen öffnete, dass Ursula zu ihm käme. Er ahnte, dass es sein letzter wacher Moment sein sollte – und ein letztes Lächeln erschien auf seinem Gesicht.

Nie in den zurückliegenden Monaten hatten sie je ein Wort miteinander gesprochen. Auch nun, als sich Ursula mit ihrem bezaubernden Lächeln über ihn beugte, sagte keiner ein Wort. Sie brauchten keine Worte, sie hatten ihr Lächeln – und das genügte.


Anmerkung von IngeWrobel:

Enthalten in der Anthologie "Phoenix Türgeschichten" (epubli) und in meinem Sammelband mit Prosatexten "Vom Leben und Sterben – und dem Rest dazwischen".

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Kommentare zu diesem Text

Piroschka (55)
(15.12.18)
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bleibronze (69)
(28.02.20)
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 IngeWrobel meinte dazu am 28.02.20:
Ich gehe sogar noch weiter und behaupte: Das ist Liebe. Liebe hat so viele Facetten, dass ich sie nicht auf die bekannten Standards reduziert sehe.
Danke für Worte und Empfehlung!
Inge
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