Liebe und Topfpflanzen

Erzählung

von  autoralexanderschwarz

Kunst des Starrens (23) - Liebe

„Also zumindest aus psychologischer Sicht ließe sich doch ohne Frage konstatieren, dass das, was gemeinhin im Volksmund als „Liebe“ bezeichnet wird, nichts anderes als eine schwerwiegende Erkrankung des gesamten psychischen Apparates darstellt, die nicht nur das Potential besitzt das gesamte Denken des Erkrankten zu bestimmen, sondern darüber hinaus – so wie jede schwerwiegende Deformation der menschlichen Psyche – unweigerlich auch körperliche Symptomatiken und physiognomisch klar klassifizierbare Deformationen nach sich zieht, die sich hier in ihrer Vielfalt nicht vollständig darstellen lassen, aber die man des einfacheren Verständnisses halber metaphorisch so veranschaulichen könnte, dass sie in etwa dem entsprechen, was man meint, wenn man sagt, dass ein Mensch gebeugt oder gebrochen sei“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, nachdem wir eine ganze Weile geschwiegen, gedacht und dabei gestarrt haben. Zum ersten Mal seit langer Zeit bin ich wieder zu Besuch in der Apothekerssohnwohnung und habe eine Topfpflanze als Geschenk mitgebracht, die nun neben einer anderen Topfpflanze auf dem Parkettboden steht.

„Das ist einmal mehr im höchsten Maße irreführend“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, mit einer gewissen Empörung, „hinter deinem komplizierten Duktus verbirgst du doch eine nahezu kindlich-naive Argumentation. Letztendlich sagst du doch nichts anderes, als dass die Liebe eine Krankheit sei, weil sie weh tun kann?“, fragt Olaf, der Sohn des Apothekers, und ich habe das Gefühl, dass er dabei die Vokale bewusst kindlich betont, „dabei aber unterschlägst du nicht nur jegliche positive Wirkung, die der Liebe ja gemeinhin zugeschrieben wird, du besitzt zudem die Frechheit auf der Grundlage einzelner negativer Wirkungen das gesamte Konstrukt als negativ zu klassifizieren“, sagt Olaf der Sohn des Apothekers, durchaus herausfordernd und mit lauter Stimme, worauf wir eine Weile schweigen, denken und starren, zwischendurch rauchen, dann wieder denken und starren. Wir sitzen auf dem Boden. Hinter den Fenstern ist nichts als ein blauer Himmel.

„Letztendlich machst du genau das, was du mir vorwirfst“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, „du sagst, dass die Liebe keine Krankheit sei, weil sie – ich gebe es zu – von mir verschwiegene positive Wirkungen beinhalte, ich frage dich: welche Krankheit beinhaltet keine positiven Wirkungen, was ist überhaupt eine positive Wirkung? Die Abhängigkeit eines Suchtkranken nach seinem Suchtstoff, sei es eine Droge oder ein anderer Mensch, zeigt sich ja nicht notwendig immer auf eine hässliche Art, aber sie ist immer gleich determinierend, wesentlich für das Verhalten des Suchtkranken ist nicht primär seine Sucht, sondern die Frage, ob der Suchtkranke über seinen Suchtstoff verfügt. Vereinfachend – und auch auf die Gefahr hin kindlich-naiv zu klingen – würde ich sagen, dass die sogenannten negativen Wirkungen aus der Abwesenheit des Suchtstoffes resultieren, die sogenannten positiven Wirkungen analog aus der Anwesenheit, aus dem Besitz desselben. Ungeachtet dessen stellt die sogenannte „Liebe“ diesen Dualismus überhaupt erst her und kann in diesem Sinne – da sie sich dabei determinierend und in diesem Sinne degenerierend auf alles andere auswirkt – durchaus als Krankheit bezeichnet werden, oder, um es in deinen Worten zu sagen: Nur weil die Liebe manchmal nicht weh tut oder sogenannte positive Wirkungen nach sich ziehen kann, bedeutet das mitnichten, dass sie deswegen naturgemäß etwas Gutes sei“, sage ich zu Olaf, dem Sohn des Apothekers, worauf wir schweigen, denken und starren, nicht mitbekommen, dass draußen, hinter dem Fenster, ein Vogel vorbeifliegt.

„Und was hast du damit gewonnen“, fragt Olaf, der Sohn des Apothekers, nach einer Weile, „jetzt hast du die Liebe als Krankheit definiert, niemanden kümmert das, kein Mensch auf diesem Planeten wird sich deswegen anders verhalten, nicht einmal du selbst“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, „herzlichen Glückwunsch“, sagt Olaf, der Sohn des Apothekers, und lacht, als ich hinter dem Fenster einen gelben Vogel vorbeifliegen sehe. 
Wir denken, starren und schweigen.
„Warum hast du mir überhaupt schon wieder eine Topfpflanze mitgebracht?“, fragt Olaf, der Sohn des Apothekers, und er fragt es mit einer solchen Ernsthaftigkeit, dass ich die vorherige Frage vergesse.

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