Nimmerland

Sonett

von  Isaban

Auf meinen Schultern trage ich
den Kleinen schon seit Jahren.
Dort sitzt er und er kuschelt sich
ins Nest aus meinen Haaren.

Fest hält er sich an Hals und Ohr;
leicht ist er nicht zu tragen.
Ich schweig ihm manchmal Lieder vor
und denk ihm leise Fragen.

Wenn ich ihn mal nicht spüren kann,
ist mir nach kurzer Zeit schon bang,
er ginge mir verloren.

Verloren habe ich ihn nie.
Noch nie ritt er auf meinem Knie.
Ich hab ihn nicht geboren.

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Kommentare zu diesem Text


 tigujo (09.12.18)
Oh oh oh, dieses Sonett klingt und klingt nach.
Im ersten Moment dachte ich, genial!
Dann, nochmal durchschwingend den Text, blieb ich dabei :)
Toll, einfach toll. Danke!

 Isaban meinte dazu am 10.12.18:
Vielen Dank für deine Rückmeldung,
Es freut mich sehr, dass dir der Text gefällt.

Liebe Grüße

Sabine

 AZU20 (09.12.18)
Das hört sich gut an und liest sich auch so. LG

 Irma antwortete darauf am 17.12.18:
Nun ja, Armin, ich finde, das hört sich nicht gut an, vielmehr ausgesprochen traurig.

Der Beginn der ersten Strophe klingt noch recht harmlos. Ein Kleinkind, das auf den Schultern getragen wird. Aber schon das „seit Jahren“ lässt aufhorchen. Der Kleine „kuschelt sich / ins Nest aus meinen Haaren“. Sofort kommt einem das Bild eines unreifen Vogel-Babies in den Sinn. „Fest hält er sich an Hals und Ohr“: Hier beginnt auch wieder alles ganz harmlos, um dann im zweiten Vers schwer zu werden: „leicht ist er nicht zu tragen“. Der Winzling ist kein frecher Pumuckl, der dem Meister Eder auf der Schulter hockt. Und „Nimmerland“ ist auch nicht „Lummerland“. Wie ein Eichhörnchen-Junges klammert sich der Kleine fest an seine Mutter. „Ich schweig ihm manchmal Lieder vor / und denk ihm leise Fragen.“ Es geht um eine Frühgeburt, eine Totgeburt. Eine Frau, die so etwas erleben musste, hat wahrlich schwer daran zu tragen. „Ich schweig ihm manchmal Lieder vor und denk ihm leise Fragen.“: Die Gedanken der Mutter kreisen um ihr totes Kind, es lebt in ihrem Kopf weiter.

Die Terzette machen den Widerspruch deutlich zwischen dem anhaltenden Leiden und der Angst davor, genau auch noch dieses letzte, was geblieben ist, zu verlieren: Die Erinnerung. Wie während der Schwangerschaft, wo die Mutter bei ausbleibenden Kindsbewegungen voller Besorgnis ist, fürchtet sich die Mutter auch hier davor, nichts mehr vom Kind zu spüren. Verlustangst bei etwas, was bereits verloren ist. So wie sich der Kleine im fünften Vers an die Mutter klammert, so klammert sie sich an die letzten Erinnerungen an ihr Kind. Das „Verloren habe ich ihn nie.“ Erscheint widersprüchlich, weil sie das Kind natürlich verloren hat. Das Kind kam anscheinend so früh zur Welt, dass man kaum von Geburt sprechen kann. („Ich hab ihn nicht geboren.“). Aber das Wissen, dass sie es immer im Kopf behalten und in ihrem Herzen tragen wird, ist zugleich auch beruhigend und klingt wie eine Versicherung, eine Liebeserklärung an das Kind. Sie wird es eben nie verlieren. Das „Noch nie ritt er auf meinem Knie.“ klingt extrem traurig. Hier wird gegenübergestellt, wie alles hätte sein können. Zu dieser Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit passt auch ganz hervorragend der Wechsel zwischen dreihebigen und vierhebigen Versen, die dem Gedicht beim Lesen so etwas Wiegendes geben und das immerwährende Fehlen (der vierten Hebung) verdeutlichen.

Traurig und berührend. LG Irma

 Isaban schrieb daraufhin am 17.12.18:
Irma, du bist die Beste. Eindeutig die Beste!
Verzeih die kurze Antwort, mir ist was ins Auge gekommen.
Herzliche Grüße

Sabine

 Irma äußerte darauf am 17.12.18:
*drückdich* <3

 AZU20 ergänzte dazu am 18.12.18:
Du hast Recht, Irma, Man sollte so manches Gedicht mehrfach lesen, bis man den Gehalt wirklich erkannt hat. Ich war zu schnell mit meiner Meinung. LG

 princess (18.12.18)
Vor ein paar Tagen war ich schon hier, liebe Sabine, und bin wortlos wieder gegangen. Weil es so traurige, wirklich herzzerreißende Bilder sind, die du in diesem Sonett zeichnest.

Heute bin ich wieder hier. Und empfinde neben der Traurigkeit die unfassbar starke Verbindung dieser Mutter zu ihrem nicht geborenen Sohn. Schon seit Jahren trägt sie ihn auf ihren Schultern, niemals scheint er ihr zu schwer zu werden. Die beiden sind in in ihrem ganz eigenen Kontakt
Ich schweig ihm manchmal Lieder vor
und denk ihm leise Fragen.
Und dann kommt dieses erste Terzett
Wenn ich ihn mal nicht spüren kann,
ist mir nach kurzer Zeit schon bang,
er ginge mir verloren.
Es schnürt mir bei jedem Lesen aufs Neue die Luft ab. So als ob die Mutter ihr Trauma wieder und wieder erlebt. Die Herztöne waren damals möglicherweise nicht mehr spürbar; damals, als sein kurzes Leben zu Ende ging, bevor es begann. Wieder und wieder spürt sie hin, um sich zu vergewissern, ob er noch da ist; um sicher zu gehen, dass sie ihn nicht ein zweites Mal verliert.

Ein Gedicht, mit dem du mich tief innen erwischst.

Liebe Grüße
Ira

 Isaban meinte dazu am 27.12.18:
Danke, Ira.

Antwort geändert am 27.12.2018 um 13:16 Uhr
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