Inszenierung

Tagebuch zum Thema Fassade

von  tulpenrot

Ich sitze vor Erikas Haus auf einem Esszimmerstuhl. Es gibt hier keine Bank. Es wäre auch kaum Platz dafür.

Die Straße ist eng, ohne Gehweg. Zwei Autos kommen nur schwer aneinander vorbei. Im Schritttempo. Doppelhäuser reihen sich aneinander. Dazwischen nur die überaus schmalen Garagenzufahrten. Ein bisschen Garten. Ein wenig Blumenschmuck hier und da vor der Haustür oder an den Fenstern. Die meisten Anwohner lassen den Eingang jedoch sachlich, kahl, unterkühlt.

Man könnte den Nachbarn sehen und vielleicht mit ihm reden. Wenn man wollte. Wenn es möglich wäre. Doch hohe Hecken mauern die Grundstücke ein. Meist sind auch die Fenster geschlossen und mit dichten Vorhängen verhangen. Automatische Rollläden verhindern schon früh bei Sonnenuntergang die Sicht. Es wird dann richtig dunkel im Innern, man muss die Lampen anschalten. Der Blick von draußen nach drinnen wird abgewiesen und man sieht nicht mehr hinaus. In dieser Umgebung wohnt Erika. Sie passt hierher.

Ich mag lieber das Leben, wie es früher einmal war, offene Fenster und Türen, Bänke vor den Häusern zum Ausruhen am Feierabend. Reichlich Blumenschmuck an Fenstern und Balkonen wie in Oberbayern. Ich will mich auch so fühlen, wenn ich zu Besuch bei Erika bin, so gemütlich, entspannt, erleichtert. Romantisch vielleicht. Im Gegensatz zu aller Kühle und Angespanntheit im sonstigen Umgang miteinander. Deswegen sitze ich jetzt hier auf der Straße neben dem Hauseingang. Wenn es mir nicht von außen gegeben wird, nehme ich mir selber die Freiheit und gestalte das Drumherum so, dass es mir passt.

Wie die Frauen in alten Zeiten habe ich eine kleine Tischdecke auf dem Schoß und besticke sie mit Kreuzstichen. Und genau, wie ich es erwartet habe, erscheint Erika mit ihrem Fotoapparat und macht ein Foto von dieser Szene. Ich schaue von meiner Stickerei auf und lächele brav ins Bild.

Eine Inszenierung, sonst nichts. Sie ist mir gelungen. Denn als wir später dieses Foto betrachten, meint sie: „Siehst du, wie du auf dem Foto lächelst? Du kannst dich doch nicht nur unglücklich gefühlt haben bei mir.“ Ich lächele immer noch, wenn ich daran denke. Aber nicht brav.

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Kommentare zu diesem Text


 AZU20 (15.01.19)
Du hättest wenig ändern können. Ein Versuch war es wert. Und heute? Allenthalben? LG

 tulpenrot meinte dazu am 15.01.19:
Nachdem ich diesen Text fertig geschrieben hatte, hab ich mich doch nachträglich geschämt wegen dieser bewussten und gewollten Irreführung. Das gehört nicht zu meiner Art. Es war aber damals eine Verzweiflungstat, um dem Anspruch von Erika (Name geändert) zu entgehen. Es war interessant, dass sie mir meine Verstellung nicht anmerkte und auch nur die für sie schmeichelhaften Signale aufnahm und für sich reklamierte, während mein Unwohlsein in ihrer Behausung und in ihrer Gegenwart nie ernst genommen wurden. Sie lebt übrigens nicht mehr.

 Moja (15.01.19)
Verluste, nicht wahr, Facetten der Einsamkeit fängst Du im Text ein, liebe Tulpenrot, das Zwiespältige, was wir von außen wahrnehmen und wie wir uns fühlen, diese Diskrepanz hast Du gut herausgearbeitet. Ich denke an das Foto von der leeren Bank gestern, mir geht nicht aus dem Sinn - die Kränkung dort allein zu sitzen. Wie gelangt man aus der Fassade hinaus? Der erste Schritt ist das Benennen. Lieben Gruß, Monika

 tulpenrot antwortete darauf am 15.01.19:
Dass dir das Foto von gestern und der Text dazu nachgehen, ehrt dich. Danke.
Ich mag Holzbänke und hab auch schon früher "Holzbanktexte" verfasst (etwa im Jahr 2008, ich müsste nachschauen.)

Im vorliegenden Text geht es weniger um ungewollte Einsamkeit (das ist in meinem Alter durchaus ein Thema für mich, wie man sieht), sondern um gewollte Abschottung von der Außenwelt und um Selbstgenügsamkeit. Um Gefühlskälte. Auch um Selbstherrlichkeit und dem Nichtwahrhabenwollen, dass andere sich in einer solchen Gesellschaft von Erika (vielleicht vermittelt der Text, wie sie "gestrickt" ist?) und um das etwas merkwürdige Spiel, das die beiden Protagonisten mit einander treiben. Die Fassade war nur inszeniert, um die Reaktion bei Erika auszulösen. Um zu gucken ob sie so vorhersehbar reagiert, wie ich es erwartete.
Alles weitere dazu s. Kommentar zu AZU20.
Danke für deine Überlegungen und deine Empfehlung.
LG aus meinem sonnigen Studierstübchen
Angelika
Piroschki (57)
(15.01.19)
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 tulpenrot schrieb daraufhin am 15.01.19:
Liebe Petra,
deinen Kommentar hab ich gerne gelesen, denn er macht deutlich, dass du den Text sehr aufmerksam gelesen hast. Das tut gut. Danke sehr dafür. Und auch für dein Lob!
Viele Grüße
Angelika
Agneta (62)
(15.01.19)
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 tulpenrot äußerte darauf am 15.01.19:
Hallo Agneta,
dann kommst du wohl aus der Gegend, wo die Jecken gerade los sind ?
Manche Unterkühlten sind nicht so weitherzig, dass da jeder Jeck drin Platz hätte. Das macht es ziemlich schwierig.
Danke für dein Lesen und Kommentieren und viele Güße
Angelika

 niemand (15.01.19)
Im Text wird dieses abeschottet sein, dieses alles verschließen,
dieses nicht nach außen gehen als negativ benotet. Kann man durchaus, sofern man vom Gegenteil nicht nur überzeugt ist, sondern auch gegenteilig leben möchte. Aber all diese Menschen, welche dort leben haben doch diese Art des Lebens selber gewählt, ich denke nicht, dass sie jemand hierzu gezwungen hätte, daher kann ich mir auch vorstellen, dass sie gerne so leben, wie sie es ausgesucht haben. Das ist natürlich vollkommen unverständlich, wenn man das so nicht möchte und auch so nicht unbedingt kennt. Beide Lebensarten sind vollkommen in Ordnung und sollten daher auch als selbstverständlich gesehen werden. Leider haben wir Menschen die Angewohnheit unsere eigenen Lebensvorstellungen nicht nur auf andere übertragen zu wollen, sondern sogar oft die Vorstellung ihnen unsere eigenen quasi aufzuzwingen. Wir haben ein Ideal vor Augen und kommen nicht auf die Idee, dass dieses einem anderen fremd erscheinen könnte. Heutzutage plädieren die meisten für absolute Offenheit, so offen, dass man quasi wie im Schaufenster lebt [inklusive Intimitäten] und wenn dann andere hineinschauen, rufen viele "Spanner", welch Schizophrenie des Lebens. Ich ziehe eine Ähnlichkeit zum Internet, in welchem die Leute ihre Hose herunterlassen und dann schreien, dass man ihnen zu nahe kommt. Mir scheint das zu Verschlossene [hermetisch Abgeriegelte] ebenso fremd zu sein, wie dieses "ihr Kinderlein kommet, ach kommet doch
all". Gott, jetzt habe ich aber geschwätzt. Wollte ich doch gar nicht, oder vielleicht doch?;-)
Mit lieben Grüßen, Irene

 tulpenrot ergänzte dazu am 15.01.19:
Natürlich haben die Bewohner dieser Gegend sich frei dazu entschlossen so zu leben. Es gefällt ihnen so. My home, my castle könnte man auch sagen. Und es ist zugleich ein Abbild ihres grundsätzlichen Lebensstils, ihrer Haltung dem Leben und anderen gegenüber - auf jeden Fall bezogen auf Erika. Dass sie aber jemanden anderen damit unglücklich macht, kommt ihr eben nicht in den Sinn.
Wir haben ein Ideal vor Augen und kommen nicht auf die Idee, dass dieses einem anderen fremd erscheinen könnte.
Da stimme ich dir voll und ganz zu. Aber es ist nicht nur fremd, sondern auch beklemmend und einengend für die Icherzählerin.
Und das gibt dem Ganzen die negative Note.

Ich war in der Vergangenheit sehr oft in Holland - und war dem offenen Lebensstil schon damals sehr zugetan. Du kennst das sicher auch - die kleinen niedrigen Häuschen, ohne Vorgärten und ohne Vorhänge. Man sieht im Vorbeigehen hinein - aber es verbietet sich von selbst sich vor ein Fenster demonstrativ zu postieren und ausführlich zu bestaunen, was es zu sehen gäbe.
Und während ich das schreibe um 18.55 Uhr, ist hier in meiner Wohnung ohne Stores vor den Fenstern das Licht an, die Rollläden lasse ich erst später runter. Ich wohne im Erdgeschoss Kannst kommen und gucken - musst aber nicht. Ich bin allerdings mit vielem aus meiner Umgebung nicht zufrieden und muss es hinnehmen, weil ich es nicht ändern kann. Nur das mit den Gardinen kann ich frei gestalten.

Vielleicht nimmst du diese Beschreibung der Örtlichkeit in meinem Text als Stilmittel. Es ging mir darum, durch die Beschreibung der Örtlichkeit etwas über Erika auszusagen. Es ist ja nicht von ungefähr, dass sie sich dort wohlfühlt, wo man sich abschottet und wo eine gewisse Distanziertheit und Kühle herrscht. Und es zeigt die Gegensätzlichkeit zwischen den beiden Prot.

LG und vielen Dank für deinen so ausführlichen Kommentar
Angelika
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