Ödipus als Rebell

Gedankengedicht zum Thema Widerstand

von  EkkehartMittelberg

Hört ihr Götter, ihr Ungerechten, Unerbittlichen, Erfinder der Tragik,
ich nehme euer Werk, mein Schicksal, nicht als Tragik an;
denn es gibt euch das Gefühl, etwas Großartiges geschaffen zu haben,
das die Menschen in ihrer Kunst als Tragödie verehren.
Sie nennen es unschuldig schuldig werden.
Ich aber frage euch, wo ist Schuld,
wenn alles vorherbestimmt ist?

Trage ich Schuld an dem Mitleid des Boten, der mich dem Hirten übergab?
Kann ich dafür, dass Polybos mich adoptierte?
Habe ich nicht, um das Unheil abzuwenden,
das Orakel befragt, wer ich bin?
Ihr wisst genau, dass es mich ohne Antwort ließ,
aber mir prophezeite, dass ich meinen Vater töten und meine Mutter heiraten würde.
Habe ich nicht gewissenhaft das Weite gesucht und Korinth verlassen,
um den vorherbestimmten  sogenannten Frevel an Vater und Mutter unmöglich zu machen?
Ihr, die treuen Gehilfen des Schicksals, habt mich doch zynisch
in die enge Schlucht des Parnass geschickt, wo der Wagenlenker Polyphontes mich so provozierte,
das ich mich wehren musste und nichtsahnend ihn und meinen Vater Laios erschlug.
Ich hätte meinen Zorn nicht gemäßigt, werft ihr mir vor,
ihr, die niemals beherrscht, euch an den Sterblichen
für die geringste Beleidigung fürchterlich rächt.

Es genügte euch nicht, dass ihr mich ins finsterste Unglück der Blindheit stürztet,
ihr musstet mir das erhabene Gefühl geben, die Polis Theben von der schrecklichen Sphinx befreit zu haben,
ihr machtet mich hinterhältig zum König von Theben und hieltet mich nicht zurück,
als ich wiederum nichtsahnend meine Mutter Iokaste heiratete,
um mich dann als Vatermörder und Eheschänder in den tiefsten Abgrund des Unglücks zu schleudern,
ihr feigen Erfüllungsgehilfen der Moira*, statt dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit
in den Arm zu fallen und rechtzeitig mich, das blinde Opfer des Orakelspruchs, zu warnen.
Ich sehe euer widerwärtiges Grinsen darüber, das ausgerechnet ich, der Wahrheitsliebende,
den Seher Teiresias nötigte, mir mein Verhängnis zu verraten, und nicht eher ruhte,
bis ich mein Schicksal erfuhr, dessen Vollstrecker, ihr Erbärmlichen, vor Scham erröten müssten.

Doch wenn ihr Unbelehrbaren noch immer an meiner Schuld festhaltet,
in die ich unschuldig hineingeriet, ihr Zyniker, die ihr die Menschen als Spielbälle eurer Launen
missbraucht, wisst doch, wie ich für eine Schuld, die es nicht gibt,
gelitten habe, indem ich mir, damals noch an sie glaubend, die Augen ausstach,
von einem blinden Schicksal nun wirklich geblendet.
Ihr Sophisten habt die Menschen gelehrt, dieses grausame Spiel als Tragik zu deuten.
Was kann mir noch passieren, ich fürchte eure Rache nicht mehr und verachte euch.
Meine Tragik ist eine Phrase, sie ist grotesk.

*Moira: In der griechischen Mythologie erscheinen die Götter im Umgang mit den Menschen meistens als autark. Es gibt aber auch die Überlieferung, dass sie zuweilen den Willen der Moira, des Schicksals, vollstrecken.

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Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (21.01.19)
An einem Beispiel aus der klassischen Antike hast du hier Begriffe wie "Schicksal" oder "Vorsehung" dekonstruiert und zugleich das hohe Lied auf den Menschen in Verantwortung für sein Handeln gesungen. Bravo!

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.01.19:
Vielen Dank; Trekan, die Dekonstruktion des Schicksals und der Vorsehung war mir ein wichtiger Aspekt bei diesem Gedankengedicht.

 AZU20 antwortete darauf am 22.01.19:
Tolles Gedicht, und Trekan hat es gleich richtig gedeutet. LG
MichaelBerger (44)
(21.01.19)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 21.01.19:
Merci, gut so, Michael, es sollte kein Text für Bußfertige und Demütige werden.
LG
Ekki

 LottaManguetti (21.01.19)
Wunderbar! Inhalt, Auswahl der Sprache, die sich an jene der Antike anzulehnen vermag, Schlussfolgerungen.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 21.01.19:
Gracias, Kepler, meine Schlussfolgerung ist, dass ich mit dem "Unschuldig schuldig werden" als Definition für Tragik noch nie etwas anfangen konnte.
Cora (29)
(21.01.19)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 21.01.19:
Merci, Cora, wenn wir auf der Ebene des Mythos bleiben, gibt es auch Beispiele für Taten. So wird zum Beispiel der von Zeus gefesselte Prometheus durch Herakles befreit. Die Götter haben sich immer sehr geärgert, wenn die Menschen rebellisch dachten. Zeus bestrafte sie zum Beispiel mit Blitzen.
Cora (29) meinte dazu am 22.01.19:
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 TassoTuwas (21.01.19)
Hallo Ekki,
was für eine vehemente und flammende Rede der Verteidigung!
Immerhin meinen einige moderne Forscher, dass Iokaste seine Stiefmutter war. Somit Entlastung in einem Anklagepunkt und für, oder besser gegen den Vatermord, wird man wohl auch noch etwas finden!
Im Zweifelsfall immer für den Angeklagten
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.01.19:
Merci, Tasso, ich habe das mit der Stiefmutter Iokaste auch gelesen. Aber ich finde, dass man mit solchen modernen Versionen die Mythen nicht kaputt machen sollte, denn der Mythos des Ödipus gewinnt doch erst richtig Drive, wenn er auch seine Mutter geheiratet hat. Man sollte also auf der Ebene der Mythen bleiben, denn nur unverfälscht werden sie weiterhin Stoff für großes Theater liefern.
Herzliche Grüße
Ekki
Ira (53)
(21.01.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.01.19:
Danke, liebe Drita,
ich nehme an, dass du mit "wunderschön" den großen Mut des Ödipus zur Auflehnung gegen die Götter meinst.
LG
Ekki
Ira (53) meinte dazu am 21.01.19:
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 GastIltis (21.01.19)
Hallo Ekki, wenn ich jetzt in den Raum stelle, dass mich diese tragische Geschichte von Ödipus seit frühester Jugend fasziniert hat, mag es sich wie eine Floskel anhören. Ich erinnere mich noch an eine Begebenheit, als ich mit einem Freund als Student auf Rügen unterwegs war und wir, eigentlich ohne ersichtlichen Grund, an einem Kiosk stehen geblieben waren, ohne dass Kunden zugegen waren oder wir etwas benötigten. Ich weiß nur, dass ich damals diese Geschichte erzählt habe. Mit meinen Worten und ansonsten der ganzen ihr innewohnenden Tragik. Als ich am Ende angekommen war, hatten sich, ohne dass ich es bemerkt hatte, noch ein zwei Leute eingefunden, die zugehört hatten. Zum Schluss hat mich jemand gefragt, ob ich beruflich oder irgendwie sonst etwas mit Unterhaltung oder solchen Erzählungen zu tun hätte. Natürlich war ich erstaunt. Wir, also auch mein Kumpel, hatten ab und zu solche Dinge drauf, jemandem etwas zu erzählen oder auch aufzuführen. Die Voraussetzung war natürlich immer ein gewisses Interesse derer, mit denen wir es zu tun hatten. Und ganauso, Ekki, ist es auch hier. Es muss das Interesse da sein, die Neugier, die Unbekümmertheit, etwas Überraschendes, auch Tragisches, aber Menschliches vorgesetzt zu bekommen. Oder bekommen zu haben. Und das hast du wieder geschafft! Fein.
Herzlich grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.01.19:
Vielen Dank, lieber Gil. was du über das Interesse, die Neugier, die Unbekümmertheit sagst, trifft es genau. Vielleicht hätte dieses Gedicht etwas größere Resonanz, wenn die tragische Geschichte des Ödipus und die Interpretation von Tragik durch die alten Griechen mehr Lesern bekannt wären. Wenn das so ist, habe ich zu viel vorausgesetzt.
Herzliche Grüße
Ekki
Agneta (62)
(21.01.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.01.19:
Grazie, Agneta, Ödipus leistet den Göttern Widerstand, aber nicht, um sie aufzuhalten, sondern um ihnen zu sagen, was sie aus seiner Sicht sind: erbärmlich.
Ich freue mich, dass dir seine Rede gefällt.
LG
Ekki

 monalisa (22.01.19)
Hallo Ekki,

Definition von Tragik aus Wikipedia:
Ein tragisches Ereignis muss einerseits ein Leiden sein, weil es sonst nicht selbst Leid wecken könnte; aber es darf nicht die gerechte Strafe eines wirklichen Verbrechens sein, denn dies würden wir zwar bedauern, aber nicht bemitleiden. Anderseits muss es furchtbar sein, weil wir es sonst nicht fürchten würden, und es muss willkürlich verhängt sein. Nur das unverdiente Leiden ist wirklich tragisch, einen „Schicksalsschlag des Lebens gegen den Menschen“.
Und ich denke, dass Ödipus vor allem gegen diesen Begriff von Tragik rebelliert, das willkürlich verhängte Leiden von unschuldigen Menschen, die so zum Spielball der Götter werden. Er empfindet das als blanken Hohn und hochgradig zynisch, dergestalt zum tragischen Helden zu werden.
Jedenfalls verstehe ich deine Zeilen in diesem Sinne, Ödipus tritt hier empört und zornig auf und leistet sich ein Gefühl der Verachtung für diese Götter, das er auch deutlich zum Ausdruck bringt. Ich denke nicht, dass er gegen sein ‘Schicksal‘ selbst ankämpft, er wehrt sich aber entschieden dagegen, die ‘Schuld‘ anzunehmen, die er unwissend (unschuldig) auf sich geladen haben soll.
Ödipus‘ Ansage an die Götter gipfelt darin:
Was kann mir noch passieren, ich fürchte eure Rache nicht mehr und verachte euch.
Meine Tragik ist eine Phrase, sie ist grotesk.
In Furcht- ja Respektlosigkeit gegenüber diesen Göttern.

Seine Rebellion, das Revolutionäre liegt darin, dass er einen neuen Schuld- bzw. Unschuldsbegriff prägt. Er beharrt darauf, alles versucht zu haben, dem Schicksal zu entrinnen, im besten Wissen und Gewissen gehandelt zu haben und deshalb, ungeachtet des Vatermordes, der Heirat der Mutter, ungeachtet seiner Freveltaten unschuldig geblieben zu sein.
Daraus ergeben sich eine Menge Denkanstöße für uns ‘moderne Menschen‘, inwieweit man jemanden ‘schuldig sprechen‘ kann/darf/soll, der Opfer seiner Umstände geworden ist und daraus folgend Gesetze (moralisch/ethische, juridische …) gebrochen hat. Jedenfalls meine ich das herauslesen zu können, meine auch, dass dieser Aspekt in den vielen bisherigen Kommentaren vielleicht ein wenig zu kurz gekommen ist.

Liebe Grüße
mona

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.01.19:
Liebe Mona, ich danke dir sehr für diesen Kommentar, der voll und ganz meiner mit diesem Gedicht verbundenen Intention gerecht wird. Es ist in meinem Sinne, dass du deiner Interpretation die Wikipedia-Definition von Tragik vorangestellt hast, die ja darauf hinausläuft, dass der von Tragik Betroffene sein Schicksal nicht verdient hat, also unschuldig schuldig wird wie Ödipus. Diese aus der Antike stammende Definition löst getreu der Forderung, die Aristoteles an die Tragödie stellte, Furcht und Mitleid aus und sie ist auch in der Postmoderne, soweit ich sehe, immer noch gültig.
Ich habe als junger Mann, als ich zum ersten Mal den antiken Begriff von Tragik kapierte, nie ästhetische Bedenken dagegen gehabt, denn mit diesem Begriff lassen sich wunderbare Tragödien schreiben, aber ich habe mich immer darüber gewundert, dass man diese Tragödien so bereitwillig nur historisch aus ihrer Zeit heraus interpretiert hat, was ja in Ordnung ist. Ich hätte mir gewünscht, dass man heute die Wert setzenden Instanzen der Tragödie, selbst wenn es die Götter oder die Moiren sind, mehr in Frage gestellt hätte wie der rebellierende Ödipus in meinem Gedicht. Schließlich werden doch heute alle Religionen kritisch befragt, warum nicht auch die Kunst, die auf deren Überlieferung fußt. Wenn dies geschieht, bedeutet das weder Kritik an Sophokles noch Aischylos, es macht lediglich große Kunst unterschiedlich interpretierbar.

Liebe Grüße
Ekki
Trainee (71)
(22.01.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 22.01.19:
Liebe Trainee,
durch deinen blitzgescheiten Kommentar habe ich eine Menge gelernt. Ich wusste nicht, dass sich der Begriff des Schicksals bei den Griechen von einer unpersönlichen Schicksalsmacht bei Homer bis hin zu einer aufklärerischen Position in Platons Politeia, wo der Mensch sogar als Schmied seines Schicksals erscheint, entwickelt hat. Es ist erstaunlich, dass die Vorstellungen der Antike heute immer noch nebeneinander präsent sind von Schicksalsergebenheit bis hin zur Schicksalsgestaltung.

Mit Camus' Mythos des Sisyphos habe ich mich schon einmal auf meiner Seite bei KV befasst: "Sisyphos. Gedankengedicht zum Thema Absurdes" . Auch hier hast du auf Anhieb entdeckt, weshalb ich auch Ödipus zum Rebellen gemacht habe.
Ich danke dir herzlich für deinen erhellenden Kommentar, der meinem Gedankengedicht einen veritablen Hintergrund gibt.

Liebe Grüße
Ekki

 harzgebirgler (12.05.21)
Hölderlin schreibt dazu und ich zitiere *
bevor ich mich noch gar vergaloppiere.

LG
Henning

*
"Wenn einer in den Spiegel siehet,
ein Mann, und siehet darinn sein Bild, wie abgemahlt;
es gleicht dem Manne.
Augen hat des Menschen Bild,
hingegen Licht der Mond.
Der König Ödipus hat ein Auge zuviel vielleicht.
Diese Leiden dieses Mannes, sie scheinen unbeschreiblich, unaussprechlich,
unausdrüklich.
Wenn das Schauspiel ein solches darstellt, kommt's daher.
Wie ist mir's aber, gedenk' ich deiner jetzt?
Wie Bäche reißt des Ende von Etwas mich dahin,
welches sich wie Asien ausdehnet.
Natürlich dieses Leiden, das hat Ödipus.
Natürlich ist's darum.
Hat auch Herkules gelitten?
Wohl. Die Dioskuren in ihrer Freundschaft
haben die nicht Leiden auch getragen? Nemlich
wie Herkules mit Gott zu streiten, das ist Leiden.
Und die Unsterblichkeit im Neide dieses Leben,
diese zu theilen, ist ein Leiden auch.
Doch das ist auch ein Leiden, wenn mit Sommerflecken ist bedeckt ein Mensch,
mit manchen Flecken ganz überdeckt zu seyn! Das thut die schöne Sonne:
nemlich die ziehet alles auf.
Die Jünglinge führt die Bahn sie mit Reizen ihrer Strahlen
wie mit Rosen.
Die Leiden scheinen so,
die Ödipus getragen,
als wie ein armer Mann klagt,
daß ihm etwas fehle.
Sohn Laios, armer Fremdling in Griechenland!
Leben ist Tod, und Tod ist auch ein Leben."

(In lieblicher Bläue blühet)

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.21:
Vielen Dank, Henning, der Schlusssatz Hölderlins wird dem unermesslichen Leiden des Ödipus gerecht.

LG
Ekki
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