Antigone nimmt ihre Tragik an

Ansprache zum Thema Erkenntnis

von  EkkehartMittelberg

Ihr grausamen Götter habt meinen Vater Ödipus unschuldig schuldig werden lassen und sein Schicksal hat euch Erbarmungslose nicht gerührt. Doch nicht genug damit! Nun stürzt ihr mit eurem Gebot der vorschriftsmäßigen Bestattung meines Bruders Polyneikes auch mich, die Tochter, in Tragik.
Doch wisst, ihr Unbarmherzigen, die ihr mich aus der Blüte meines Lebens reißt, ich hadere wegen Ödipus mit euch, aber nicht meinetwegen. Ja, ihr werft mich in unausweichliche Tragik, denn wie immer ich mich entscheide, ich werde schuldig an dem irdischen Verbot des Kreon, meinen Bruder, den er Vaterlandsverräter nennt, zu bestatten oder an eurem göttlichen Gebot, Polyneikes den Weg in den Hades zu ebnen. Anders als Ödipus, der blind in sein Verderben rannte, lasst ihr mir wenigstens die Wahl, auch wenn Kreon mich in seinem Verlies lebendig begraben wird.
Aber glaubt deshalb nicht, ihr, die ihr dem menschlichen Leid entrückt seid, dass meine Tragik weniger entsetzlich sei als die meines Vaters Ödipus, auch wenn ich sie akzeptiere, damit der Schatten meines Bruders Polyneikes Ruhe findet.
Das Infame an meiner Tragik ist ihre Dopplung, denn auf mir lastet nicht nur der unentrinnbare Konflikt, mich zwischen dem Verbot des Königs Kreon und eurem Gebot entscheiden zu müssen, nein, ihr bürdet mir auch noch den zweiten Konflikt auf, aus Liebe meinen Bruder zu beerdigen. so meinen Tod durch Kreon zu provozieren und damit meinen Verlobten Haimon, meine große Liebe, um den Sinn seines Lebens zu bringen.
Das alles nehme ich um der Sittlichkeit willen auf meine gebrechliche Seele, ihr Furchtbaren, deren Mitleid schon da versagte, als meine Brüder Eteokles und Polyneikes den tödlichen Zweikampf suchten, den ihr nicht verhindert habt.
Doch eines tröstet mich, ein schwaches menschliches Weib lässt eure sittliche Ordnung nicht zu Schanden werden, mitleidlose Götter.

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Kommentare zu diesem Text


 susidie (24.01.19)
Vernichtend.....damals wie jetzt....immer aktuell....nehme an und stehe dadurch auf.
Was für ein Text......
Cora (29) meinte dazu am 24.01.19:
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 24.01.19:
Grazie, Susi, ja, so ist es gemeint. Wer sein Schicksal annimmt, kann dadurch stark werden.
Merci, Cora, es ist interessant, dass selbst der spröde Sophokles Antigone zugleich als fragile und starke Frauenfigur erscheinen lässt.
Jack (36)
(24.01.19)
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 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 24.01.19:
Hallo Jack, ich sehe den alten geistreichen Knarzer vor mir. So einer ist nicht zu ersetzen. ;)
Trainee (71) äußerte darauf am 25.01.19:
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 AZU20 (24.01.19)
Ja, in der Annahme seines Schicksals liegt die Stärke. LG

 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 24.01.19:
Merci, Armin. meistens jedenfalls. Manchmal liegt jedoch auch Stärke im Protest, siehe meinen Text "Ödipus als Rebell".
LG
Ekki

 TrekanBelluvitsh (24.01.19)
Religionskritik einer Figur, die sich (noch?) nicht von ihrem Glauben lösen kann.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.01.19:
Merci, Trekan, so kann man es sehen.. Mir ging es vor allem darum zu zeigen, dass unsere Vorstellungen von Tragik, die wir von den Griechen übernommen haben, für modernes Bewusstsein unterschiedlich nachvollziehbar sind.. Die Tragik des Ödipus ist pures Verhängnis. Sie trifft ihn wie ein Blitzstrahl. Antigone hat hingegen wenigstens die Möglichkeit der Entscheidung. Sie könnte sich auch für das Verbot des Kreon entscheiden, ihren Bruder zu bestatten. Einen Ausweg aus dieser Tragik gibt es freilich nicht. Der Mensch ist zwischen zwei Möglichkeiten gestellt und egal, welche er wählt, er wird gegen ein tödliches Verbot verstoßen.

 TassoTuwas (24.01.19)
Hallo Ekki,
tragisch ist. das hab ich im Deutschunterricht gelernt, egal was der arme Mensch auch tut, ist gibt kein Entkommen, No "Happy ending", endet also immer "tragisch". Den alten Griechen scheint das gefallen zu haben
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.01.19:
Ja, Tasso , die alten Griechen haben hervorragende Tragödien geschrieben. Mich erstaunt, dass diese alten Stoffe immer noch Dichter der Moderne magnetisch anziehen.
Herzliche Grüße
Ekki

 monalisa (24.01.19)
Hallo Ekki,
du hast dich wohl in letzter Zeit ganz den griechischen Tragödien verschrieben. Mich wundert eigentlich nicht, dass sie bis heute immer wieder aufgegriffen werden, berühren sie doch urmenschliche Fragen und Themen von zeitloser Relevanz.
In Antiognes Fall ein klassischer Konflikt, sie kann nicht nur, sie muss sich zwischen Regen und Traufe entscheiden und fühlt sich in der Falle. Was sie auch wählt, es gereicht ihr zum Nachteil. Sie folgt ihrem sittlichen Gewissen und bewertet den Dienst am toten Bruder höher als ihr eigenes Leben und Liebesglück. Gleichzeitig klagt sie die mitleidlosen Götter an und beugt sich ihren Vorgaben. Bei all der Tragik fühlt sie sich als Siegerin, weil sie 'die sittliche Ordnung nicht zu Schanden werden lässt'.
Anders als Ödipus hat sie die Wahl und kann Konsequenzen abschätzen. Ist die Tragik ihres Lebens dadurch geringer zu bewerten?

Liebe Grüße
mona

Kommentar geändert am 24.01.2019 um 18:29 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.01.19:
Liebe Mona,
ich schätze mich sehr glücklich, in dir eine Interpretin zu haben, die fast immer genau die Intention meiner Texte erkennt, so auch wieder hier.
Es ist ganz schwierig zu bewerten, ob die Tragik Antigones geringer zu bewerten ist als die des Ödipus, weil sie wählen kann. denn ihre Entscheidung bedeutet in jedem Falle ihren Tod. Deshalb werden wohl die Meisten den Abgleich der Tragik als grotesk empfinden. Vielleicht darf man sagen, dass Antigone mit der Möglichkeit der Entscheidung etwas von ihrer Würde gelassen wird.

Mit herzlichem Dank für den sorgfältigen Kommentar und lieben Grüßen
Ekki

 GastIltis (24.01.19)
Hallo Ekki, interessant an den antiken Geschichten sind immer die zeitweiligen familiären Zusammenhänge, die sogar in Stammbäumen münden. Und alles ohne DNA-Tests. Wobei unterschiedliche Mythen auch unterschiedliche Verwandschaftformationen festhalten. Natürlich sind die großen Tragödiendichter im Vorteil. Sie haben nicht nur den Zeitgeist geprägt, sondern ganze Kulturen. Manches ist gut, sicher ist vieles auch böse angenommen worden. Im Fall Antigone treffen zwei Dinge zusammen, die immer schon verhängnisvoll waren: Kaiser, Gott (und Vaterland). Also Herrscher, sprich Unterordnung, und Religion, also der Glaube an die Götter. Nun war Kreon sowohl Herrscher, als auch Verwandter von Antigone. Dazu geplanter Schwiegervater. Gut, Kaiser Wilhelm und Zar Nikolaus waren auch verwandt; die Zarin war sogar Wilhelms Cousine. Und sie haben auch auf Millionen von Untertanen keine Rücksichten genommen. Damals dagegen hatte jede Stadt ihren König. Die Götter, in der Antike wie vor hundert Jahren der eine, fragliche, waren immer für alle da. Nichts Neues aus der Antike. Oder besser: die Menschheit hat nichts gelernt. Alle waren den Herrschenden hörig und ansonsten demütig. Jahrtausende.
Was hatte Antigone für Alternativen. Als Mensch und als Frau? Diese Frage, Ekki, solltest du mal mit einer antiken Geschichte beantworten, wenn es eine gibt. Herzlich grüßt dich Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.01.19:
Vielen Dank, mein Freund, du stellst mir am Ende deines erhellenden Kommentars eine schwierige Frage nach den Alternativen für Antigone. Vielleicht gibt es darauf zwei Antworten. Antigone hatte keine Alternative, dem tragischen Konflikt auszuweichen. Eben das macht sie zu einer tragischen Figur. Aber der tragische Konflikt selber ist sogar eine echte Alternative, denn Kreon zu folgen würde bedeuten, staatspolitisch zu handeln, den Göttern zu folgen, Ethik über Politik zu stellen. Die griechischen Sophisten hätten sich auf die Seite Kreons geschlagen, denn sie begannen damit, den Glauben an die Götter mehr oder weniger radikal in Frage zu stellen.
Herzliche Grüße
Ekki
Trainee (71)
(25.01.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.01.19:
Liebe Trainee,
hab vielen Dank für deinen anregenden Kommentar, der eine kleine Soziologie des Mythos darstellt. Ich denke auch, das trotz falsch verstandener Aufklärung der Mythos bleibt. Verlöre der Logos seinen Gegenspieler, würde unsere ohnehin oberflächlich fortschrittsgläubige Gesellschaft entwurzelt werden.
Liebe Grüße
Ekki

 Bergmann meinte dazu am 25.01.19:
Eine Kurzinterpretation der Heldin, als geschähe das Stück heute. Eine gute Klausur-Aufgabe für den Literaturunterricht! Antigones Monolog leider utopisch heute wie damals ... Allen Segens Anfang ist Besinnung ... Doch: Aus vorbestimmtem Los vermag kein Sterblicher sich zu befrein. -Weh und Ach!
Liebste Grüße
Uli

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 25.01.19:
Lieber Uli, ja, Antigones Monolog ist utopisch. Aber vielleicht sind wir uns darin einig, dass es Spaß macht, in Utopien zu denken.
Beste Grüße
Ekki

 harzgebirgler (11.05.21)
ergehen zu lassen gnade vor recht
hätte den stadtstaat wohl zu sehr geschwächt.

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 12.05.21:
Vielen Dank, Henning, das wäre bei den Bürgern sehr gut angekommen, aber wo Gnade waltet, gibt es keine Tragödie.

LG
Ekki
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