Ewa

Geschichte

von  Oreste

Ewa lebt allein an der Küste.
Jeden Morgen im Frühjahr läuft Ewa mit einem Korb voller Muscheln hinunter zum Strand.
Dort gibt Ewa die Muscheln zurück ins Meer und liest neue auf.
Ewa sammelt nur die halben Muscheln.
Ewa sagt, jede Muschelhälfte stehe für ein suchendes Herz, denn auch jedes Herz sei von Geburt an bloß ein halbes.
....Ich runzle die Stirn.

Nicht jede Herzhälfte suche ihr Gegenstück, sagt Ewa – andererseits gebe es auch lose Muschelhälften von Menschen, die zusammenleben. Die mögen sich auch lieben, sagt Ewa, doch sei das dann halt nicht die große Liebe, die, die ein Leben lang hält.
....Mich verwirrt das und ich frage Ewa, warum sie das tue.
Ewa antwortet mir, sie suche nach dem Pendant ihres Herzens.
....Wie genau sie das anstelle, frage ich.
Sie nehme die Muschelhälften mit nach Hause und begutachte sie am Nachmittag bei einer Tasse Tee, antwortet Ewa, oft auch einer Kanne. Jede für sich.
Sie prüfe sie anhand folgender Kriterien:

Ist sie ganz oder zerbrochen? Zerbrechlich oder robust? Glänzend oder matt?
Ist sie groß oder klein? Glatt oder geriffelt? Einfarbig oder bunt?
Ist sie schwer oder leicht? Scharfkantig oder stumpf? Gesprenkelt oder gestreift?
Und an wen oder was erinnert sie in ihrer Form? Vielleicht …

....… an ein halbes Herz, frage ich.
Quatsch, erwidert Ewa, das klinge nun wirklich albern. Außerdem könne sie ja gar nicht wissen, welche Form ihres habe.
....Ich nicke nachdenklich.
Jedenfalls, führt Ewa fort, wenn sie damit fertig sei, horche sie – so, wie man diese handgroßen, tropischen Muscheln ans Ohr halte und horche – in sich hinein. Und erst, wenn ihr Herz dabei in sanften Wellen schlage und sich ein warmes, blaues Rauschen auf ihre tiefsten Ängste lege, wisse sie; das muss die Richtige sein.

....Woher sie das wissen könne, werfe ich ein, wo sie das doch noch gar nicht erlebt habe.
Sie wisse das einfach, so Ewa.
....Doch was, frage ich weiter, wenn sie die zu ihrem Herz passende Muschel gefunden habe.
Dann müsse sie bloß noch den Menschen finden, zu dem die Herzmuschelhälfte gehört, lacht Ewa und blickt schon wieder gedankenverloren in die Ferne.


Anmerkung von Oreste:

2016

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (07.02.19)
Ewa ist mir sehr sympatisch! Sie erklärt, ohne es zu wissen, die Unmöglichkeit der Suche nach der "fehlenden Herzhälfte". Oder meinst du etwa, sie hätte irgendwann Erfolg damit?
Ist es so, dass irgendwann, wenn überhaupt, eine solche Suche Erfolg haben könnte?
Ich plädiere ja eher für Symbiose.
Die verträumte Ewa mag ich trotzdem und wünsche ihr viel Glück auf ihrem Weg zum Strand und zurück. Wer hat schon das Glück, morgens im Frühjahr die Sonne hinter dem Meer aufgehen zu sehen? Die meisten von uns lümmeln da nur im Sommer rum.

Lotta

 Irma (07.02.19)
Ein schöne Übertragung davon, wie man erkennt, ob zwei Herzen zusammenge-"hören". Sehr romantisch, aber auch traurig.
LG Irma

P. S. Addam und Ewa hatten es noch einfach. Da gab's nix zu wählen.

Kommentar geändert am 07.02.2019 um 13:16 Uhr

 Oreste meinte dazu am 07.02.19:
*lach Und doch haben sie's - so oder so - verbockt.

Danke dir, liebe Irma!
O.
Fisch (55)
(07.02.19)
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 Oreste antwortete darauf am 07.02.19:
Ja, der Titel war mal deutlich länger und deutlichst kitschiger. Bitte zwing mich nicht, ihn hierher zu schreiben.
Hast du einen Link parat?

Dein Stern freut mich!
O.

 autoralexanderschwarz (07.02.19)
Wirklich schön. Für meinen Geschmack endet es etwas abrupt, ich persönlich fände einen ergänzenden Halbsatz ("lacht Ewa und...") gut.

Gruß
AlX

 Oreste schrieb daraufhin am 07.02.19:
Vielen Dank, das freut mich!

Ich gebe dir vollkommen recht und werde mir einen entsprechend ausklingenden Schluss überlegen.

Grüß dich
O.

 Oreste äußerte darauf am 05.12.19:
Nach einem knappen Jahr der Überlegung: So?

(;

 autoralexanderschwarz ergänzte dazu am 05.12.19:
Weiß nicht mehr wie es war, aber "fadet" gewissermaßen schön "out".

 Oreste meinte dazu am 05.12.19:
Danke!

Ursprünglich war nach "lacht Ewa" Schluss.
Trainee (71)
(07.02.19)
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 autoralexanderschwarz meinte dazu am 07.02.19:
Dem würde ich widersprechen. Auch wenn ein „Füllwort“ semantisch vielleicht redundant ist, bedeutet das mitnichten, dass es grundsätzlich überflüssig ist, weil es dann zumeist (wie auch hier) lautliche Funktionen erfüllt. Das ist zumeist auch der - häufig unbewusste - Grund, warum man es überhaupt schreibt.

Antwort geändert am 07.02.2019 um 13:13 Uhr
MichaelBerger (44) meinte dazu am 07.02.19:
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Trainee (71) meinte dazu am 07.02.19:
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Paulila (55) meinte dazu am 07.02.19:
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Trainee (71) meinte dazu am 07.02.19:
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Paulila (55) meinte dazu am 07.02.19:
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 Oreste meinte dazu am 11.02.19:
So, nun - nach etwas Bedenkzeit - ich.

In diesem Fall schließe ich mich der Sichtweise von AlX an und möchte ergänzen:

"Die mögen sich auch lieben, sagt Ewa, doch sei das dann halt nicht die große Liebe, die, die ein Leben lang hält."

In (u. a.) dem Satz soll das Füllwort "auch" (genau wie das semantisch obsolete "dann halt" im zweiten Teil des Satzes) außerdem die Funktion erfüllen, Ewas Ausdruck eine trotzige, vielleicht kindlich naive Note zu verleihen. Ob mir das nun gelungen ist oder nicht, sei dahingestellt.

"Was ich allerdings mittlerweile als Problem erkenne, ist ein Mangel an passiver Kritikfähigkeit bei den hiesigen schreibenden Männern.
Frauen sind offenbar eher in der Lage, Kritik anzunehmen, am eigenen Text zu arbeiten und mal was zu ändern. Ich selber mache das laufend."


Den Eindruck teile ich nicht. Im Allgemeinen beobachte ich eher das Problem vieler Kritiker im Umgang auf - wie auch immer geartete - Zurückweisung ihrer Kritik. Das finde ich persönlich übrigens viel spannender als die ewige Debatte um die mangelnde Kritikfähigkeit eben der oder des Kritisierten.

So oder so - vielen Dank für die Kritik. (-;

Grüße in die Runde!
O.

Antwort geändert am 11.02.2019 um 22:08 Uhr
MichaelBerger (44)
(07.02.19)
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 Oreste meinte dazu am 07.02.19:
Rubiwasfürnding? :D

Herzlichen Dank dir!
O.
MichaelBerger (44) meinte dazu am 08.02.19:
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 Oreste meinte dazu am 11.02.19:
Waaas?
MichaelBerger (44) meinte dazu am 12.02.19:
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 Isaban (13.02.19)
Hallo Oreste,

eine wirklich schöne, romantische, anrührende und (je nach Tagesform) traurige Geschichte. Ewa ist so liebenswert versponnen geschildert, dass ich Leser mich augenblicklich in die Struktur ihrer Langzeitaufgabe verlieben könnte - eine Amelie der muschelsuchenden Art.

Ich mag die sanften, leisen Redundanzen im Text, die für mich stilistisch perfekt die anhaltende, unbeirrte, immer weitergeführte Muschelsammelei bebildert - sei es durch die auf liebevolle Weise naiv wirkende Wiederholung des Namens "Ewa" (sehr hübsch, die erste Frau, Teil des ersten Mannes, die das Reststück, also den Rippeninhaber sucht), durch die vielen Fragen (und Fragezeichen) der Check-Liste oder auch durch die "auchs", von denen ich keines ausgebaut hätte. Ewas Leben an der Küste ist eine Ansammlung von Tagen, an denen sie ihr Vorhaben umsetzt, heute und auch morgen und auch übermorgen - vielleicht auch für immer, auch wenn da immer Hoffnung ist, dass irgendwann der Mensch, zu dem die bislang ungefundene halbe Muschel gehört, dort vorbei kommt, vielleicht auch auf der Suche nach der passenden Hälfte.

Ein wundervoll zarter, sehr berührender Text!

Liebe Grüße.
Isaban

 Oreste meinte dazu am 16.02.19:
Den rahm ich mir ein.

Danke!!!
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