Sprungturm

Text zum Thema Stärke/Schwäche

von  PollyKranich

Erste Stufe, zweite, dritte. Bei der achtunddreißigsten spürte sie ihre Oberschenkel, die zweiundfünfzigste schmerzte stark. Weiter, weiter,...

Im Grunde war es eine Vertrauensübung, aber davon sollte sie erst später erfahren. Zumal auch das Wort „Vertrauen“ nicht Teil ihres Wortspeichers war.
„Du bist auserwählt“, hatte auf dem Display gestanden, zur gewohnten Zeit.
Sanft gleitend öffnete sich die Klappe, sie wollte die Kleidung herausnehmen und bemerkte, dass ein Sportbadeanzug im Fach lag. „Heute“ lautete die nächste Nachricht. Perfekt abgestimmt auf ihr Tun.
Der Anzug war recht eng, so schälte sie sich hinein und wartete auf eine Anweisung.
Nichts passierte. In ihrer Zelle fehlten Farben, so stand sie dort also in der grau-weißen Umgebung und fühlte sich zunehmends unwohl in dem kneifenden Badeanzug.
Nichts passierte.
Nach drei Stunden schmerzten ihre Oberschenkel, sie hatte sich nicht bewegt und ihr Magen war immer noch leer.
Weitere zwei Stunden später fiel ihr Kopf nach rechts, sie nickte kurz ein, die Anspannung war abgefallen.
Das „Pling“ der Nachricht ließ sie aufschrecken. Auf dem Display blinkte in grellem Blau „JETZT!“

Sie verließ die Zelle und wartete vor der Tür. Von links kam eiligen Schrittes ein Aufseher, nahm sie am Arm und zerrte sie Richtung, ja wohin eigentlich? Diese Gänge war sie noch nie zuvor gegangen, schon gar nicht in dem Tempo und ohne ein Wort, geschweige denn ein freundliches.
Nach etwa 20 Minuten kamen sie an eine extra gesicherte Tür, ihr wurde eine Augenbinde angelegt, Kopfhörer verschlossen das Gehör. Nun war sie allein mit ihren Kopfgeräuschen. Der Griff am Arm lockerte sich, fast liebevoll wurde sie weiter geschoben, wieder ein Stop, wieder ein sanftes Schieben. Das ganze wiederholte sich etwa sieben Mal, so sicher war sie da nicht.

Plötzlich wurde es kalt. Gänsehaut überzog augenblicklich ihren Körper und sie begann zu Zittern.
Augenbinde und Kopfhörer wurden unsanft abgenommen und nun sah sie es: ein Sprungturm, ein großes Wasserbecken, kalte Weite, endloses Grau.

„Da hoch! Sofort!“ flackerte es auf dem Display, und nun registrierte sie die Abwesenheit der Aufseher. Sofort ging die Was-wäre-wenn-Raserei in ihrem Kopf los. Nichts Neues, alte Gedanken, ein wenig abgenutzt und hoffnungslos. Dennoch rasend schnell. Sie scannte die Umgebung, ihr Blick fand nichts, an dem er hängenbleiben konnte und schneller als üblich gab sie auf. Schaltete ihr Hirn lahm, um zu überleben.

Ging festen Schrittes auf die Leiter zu, versuchte im Gehen die Höhe abzuschätzen und fragte sich, warum zum Geier sie von diesem vermaledeiten Turm springen sollte. Was hätten sie davon? Das Wasser bewegte sich leicht, kleine Wellen schlugen gegen die Beckenwand. Wind! Sie genoss trotz der Kälte diesen Augenblick des Lebens und ging weiter.

Erste Stufe, zweite, dritte. Bei der achtunddreißigsten spürte sie ihre Oberschenkel, die zweiundfünfzigste schmerzte stark. Weiter, weiter, diesem Wahnsinn ein Ende machen. Zurück in die Zelle, sich Farben vorstellen, so lange die Erinnerung daran noch zugänglich war.

Der Badeanzug war eine viertel Nummer zu klein. Wie hatte ihm nicht auffallen können, dass sie zugenommen hatte? Ein schlechtes Zeichen, hieß es doch, dass sie sich mit einem aus der Versorgungsmannschaft gemein gemacht und Essen erschlichen hatte. Etwa bei einem Drittel der Höhe zögerte sie, auch das ein Zug, der ihn stutzig machte, dann ärgerte. Er verbot sich einen gebellten Befehl, sollte sie doch von menschlichen Stimmen isoliert werden. Bisher hatte sie sich gut geführt, kein Widerstand, kein Makel, keine aufrührerischen Tendenzen. Nur dieses Zögern und der zu knappe Anzug. Er nahm sich vor, sie noch genauer zu beobachten.
Weit entfernt, im selbern Gebäudekomplex zwar, aber etliche Gänge und Sicherheitstüren weiter fixierten sie den Bildschirm. Er wirkte unkonzentriert, fast bewegt. Seine Mimik hatte er nicht mehr im Griff und ein Anflug von Ärger war auf seinem Gesicht. Den Blick auf die Leiter gerichtet, sich nervös von einem Bein aufs andere wiegend, deutete alles auf eine Unruhe hin. Was fiel ihm ein? Er musste schleunigst ersetzt werden. Doch diese Sache war zu wichtig, um sie noch abbrechen zu können.

Das Mädchen näherte sich der 112. Stufe und schon bald würde sie sehen, dass das Sprungbrett aus Licht bestand. Sie hatten in mühevoller Kleinarbeit Licht gehärtet, in Form gebracht und nun war der Moment gekommen, seine Haltbarkeit zu testen. Würde dies gelingen, stünden ihnen noch ganz andere Erfolge bevor.

Sie verlangsamte ihr Klettern und zögerte, den Blick über die Schulter nach unten gewandt. Sie sah jemanden unten stehen, er trippelte umher und schien nervös bis besorgt.
'Das kann nicht sein, ich muss mich täuschen, das ist der Höhenkoller, Wunschdenken, das dringende Bedürfnis nach menschlicher Anteilnahme.` ihre Gedanken kreisten, kreisten, es bildeten sich Schlaufen, sie gab auf. Resigniert nahm sie ihre letzten Kräfte zusammen und stieg weiter.

Ihre Hände berührten die letzte Stufe, sie griff weiter und wollte sich aufs Sprungbrett hieven. Nichts. Da war nichts. Das Gestell rechts und links vom Ort, wo das Sprungbrett hätte sein sollen, war intakt. Kein Sprungbrett zu sehen. Der Aufbau des Turm begann zu wackeln, ein starker Wind rüttelte an ihr.
Fieberhaft begann sie zu überlegen. Ihre Kraft reichte für einen Abstieg nicht aus, in der Kälte bei hoher körperlicher Anspannung zu warten, dass ein Wunder geschah...davon war sie weit entfernt.
Sie wandte sich vorsichtig um und sah, dass der Mann unten immer noch da war. Hoffnung keimte in ihr auf. Vielleicht war er so wie sie, vielleicht konnte er die Farben und Gerüche noch erinnern, die Zeit vor der Löschung diffus spüren.
Der Wind riss ihr die Worte vom Mund. In diesem Moment bellten in ihrem Kopf bei zeitgleichem Aufleuchten des Displays die Worte „BETRETE DAS SPRUNGBRETT. GANZ NACH VORNE!“

Ob sie nun völlig übergeschnappt waren, hatte sie sich schon so oft gefragt, dass der Gedanke nicht mehr taugte.
Sie griff ins Leere und fand Halt. Ungläubig zog sie sich auf das unsichtbare Sprungbrett. Rutschte ein wenig nach vorne und hielt sich am sichtbaren Seitengestell fest.

Im Kommandoturm war man unzufrieden. Wer hatte diese unfähige Person ausgewählt? Der Fehler war schnell gefunden und wurde erledigt. Nun stritten sich zwei andere darum, ob das Experiment bereits gescheitert war, ob man es abbrechen sollte und jemand anderen holen sollte oder ob man es verloren gäbe und sie springen ließe.
Die Vorbereitungen hatten Monate gedauert. Die Stimmung wurde immer angespannter, der Kommandeur schrie und tobte und die übrigen widersetzten oder duckten sich.

Sie stand auf und beschloss, zu springen. Der lange Flug, das sanfte Wasser, was konnte schöner sein, als durch die Luft zu fliegen! Außerdem konnte man auf diesem unsichtbaren Brett oder auch Mistding wie sie dachte, ganz gut stehen. So groß war das Becken nicht, sie würde schon irgendwie den Rand erreichen. Eine ungekannte Lebendigkeit erfüllte sie und beinahe war sie den perfiden Machenschaften dieser Leute dankbar für diesen einen Moment.

Er sah sie auf dem Brett aufstehen, den Rücken gerade machen und dachte, dass sie nun wieder in der Spur sei. Sie ging einen Schritt, wie zur Probe, und das ärgerte ihn abermals.

Der Kommandeur deutete auf den Bildschirm, sah sein wutverzerrtes Gesicht in Großaufnahme und schlug mit der Faust auf den Tisch. Doch da war kein Tisch, da war ein großer blauer Knopf. Es knallte und eine Sirene heulte los.

Der Boden öffnete sich.
Sie flog. Prallte auf und war augenblicklich tot.


Er hörte ein Geräusch, die laute Sirene in der Ferne und sah sie fliegen.

Auf den Kacheln lag ein Mädchen in knappem Badeanzug, merkwürdig verdreht, den Mund weit geöffnet, der Blick leer.

Er ging ein wenig näher an sie heran, registrierte ihre Hirnnummer und erinnerte sich, sie gestern beim Sportprogramm gesehen zu haben.
Die rote Lache um sie herum breitete sich rasch aus. Einen Schritt zurücktretend sauste es plötzlich in seinen Ohren. Rot, rot, rot, Mädchen, leerer Blick. Ihm wurde übel und er hastete zur Tür, gab mit fliegenden Fingern den Code ein und rannte die Gänge entlang, bis ihm endlich wieder etwas bekannt vorkam.

„GESCHEITERT, PROJEKT GESCHEITERT! ALLES RAUS HIER! UND BRINGT ORDNUNG IN DEN SAUHAUFEN DA UNTEN!“

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(09.02.19)
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 PollyKranich meinte dazu am 10.02.19:
Dankeschön. Beste Grüße von Polly

 princess (10.02.19)
Hallo PollyKranich,

ein Text, der in atemberaubender Fülle Bild für Bild für Bild produziert und sich beim Lesen unmittelbar in eine Filmsequenz übersetzt. Packend. Und erschreckend vorstellbar.

Viel Spaß bei kV und liebe Grüße
princess

 PollyKranich antwortete darauf am 10.02.19:
Das freut mich, wenn es packend ist. Vielen Dank und liebe Grüße zurück, Polly

 Dieter Wal (29.09.20)
Modernisierter Kafka, der eine drehbuchähnliche Traumsequenz bis zum bitteren Ende durchformt. Dabei werden eindrucksvoll offensichtlich bewusst gleich mehrere Spannungsbögen gestaltet und durchgeführt. Neben Kafka, dessen Prosa immer präzise Außenwelten benennt, kommt mir noch Orwell in den Sinn, der einen vielleicht noch linerarere Erzählstrukturen nutzt. Auch diese Erzählung besticht durch Klarheit und stilistische Meisterschaft.

Bisherige 21 Leserwertungen von mir.

Kommentar geändert am 29.09.2020 um 20:18 Uhr

 Dieter_Rotmund (14.10.20)
Die Idee ist alt, hat man auch im Free-TV schon gesehen.

 PollyKranich schrieb daraufhin am 28.12.22 um 11:01:
Hallo,
da ich kein TV schaue schon seit Jahren,  stört mich das nicht so. Aber schön, dass Du es für TV lastig hältst,  das ist irgendwie...Weiß auch nicht. Sollte ich sitcoms schreiben? Schöne Grüße
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