Hinter der Schönen Aussicht

Kurzgeschichte zum Thema Abgrenzung

von  RainerMScholz

Aus der wuchtigen, verschrammten Musikbox, der ein paar Buchstaben und Zahlen fehlen, während der Rest der Tasten wie gelbe schartige Zähne schief aus diesem Maul ragen, kachelt kratzig und dröhnend 'Der lachende Vagabund' von Fred Bertelmann. Der nahe Fluss gurgelt unter den Kanaldeckeln, und die Bedienung in der schwarzen Bluse mit der gerafften, knitterigen, schmutzigen Schürze schläft mit dem Kopf in der Armbeuge auf der resopalgefassten Theke und macht die Beine breit in ihrem desolaten Zustand für ein Publikum, dass sich nur minder begeistert zeigt. Der Abend schreitet voran, wird zur dusteren Nacht unter den gelben nackten Glühbirnen. Sterne glitzern womöglich am  Himmel.
Er steht auf, um sich ein weiteres Binding Export zu ordern, dann torkelt er, stößt an die wackelige Tischkante, reißt den übervollen Aschenbecher mit herunter und stürzt auf die Knie. Schwer lastet sein massiger träger Körper auf ihm. Er überlegt, ob er sich übergeben muss. Stieren Blicks glotzt er auf den grauen, abgenutzten Linoleumboden direkt vor seinem Gesicht. Ein Speichelfaden zieht sich von seinem Mundwinkel, den er jetzt bemerkt. Das bringt ihn dazu, den Kopf mühsam in den Nacken zu legen. Schemenhaft erkennt er die Kumpane, die ihn beobachten, jedoch keine Anstalten machen, ihm beizustehen. Er steckt sich eine erloschene ausgedrückte Zigarettenkippe zwischen die Lippen, in der Annahme, dass das seine sei. Die rechte Hand greift nach einem Stuhl in Reichweite, verkrallt sich in die Lehne, die Linke löst sich unsicher vom Boden, schwebt in der Luft, und dann gibt der Stuhl nach, die Stempel rutschen in einer Bierlache weg. Ganz langsam, wie es ihm vorkommt, sinkt er wieder zu Boden, sein Kinn bremst den Aufprall. Er schmiegt die Wange an den kühlen Untergrund und wartet einen Moment. Irgendetwas dreht sich unter ihm. Vielleicht muss er doch brechen. Nach einem weiteren Bier geht das bestimmt weg, denkt er verschwommen und schläft ein.
Die dunkelhäutige, verhärmte Putzfrau wischt am nächsten Tag die Reste fort und wirft die Scherben weg, wringt das Schmutzwasser in den roten Plastikeimer ohne Henkel und schüttet es in den Gulli. Bevor sie abschließt, stößt sie vorsichtig den am Boden Zusammengekauerten an und bittet ihn in gebrochenem Deutsch das Lokal jetzt zu verlassen.
Ich schaue in den Himmel. Keine Sterne. Es hat keinen Sinn wegzulaufen, denke ich. Auf der anderen Straßenseite hat der Kiosk schon geöffnet und Manni und Edgar stehen da.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 harzgebirgler (27.02.19)
die putzfrau hat anstand der echt imponiert -
manch kauernder wird eher noch malträtiert.

abendgrüße
henning

 RainerMScholz meinte dazu am 28.02.19:
Ein Prosit, ein Proo-oo-sit der Gem...uargh!
Grüße,
R.

 Isaban (02.04.19)
Verlorenheit pur.

Ein Text, der es schafft, dass der Leser sich unwillentlich trotz all der geschilderten eklen Umstände mit dem Protagonisten identifiziert, zumindest soweit, dass so etwas wie Sympathie und Mitfühlen entsteht.

"Ich schaue in den Himmel. Keine Sterne. Es hat keinen Sinn wegzulaufen, denke ich. "

Dem Protagonisten geht es schlecht, er will sich aus dem Geschehen nehmen, will flüchten, aber selbst der Himmel, sternenlos, wie er ist, bietet keinen Rückzugsort. Weglaufen bringt nichts, wenn man nicht weiß, wohin man laufen soll. Da bleibt dann nur die Flucht nach vorn, zu Manni und Edgar und dem Bierchen am Kiosk.

LG Isaban


Edit: Zum Titel: Ist hierbei die "Schöne Aussicht" ein fester Begriff, ein bestimmter Ort? Falls nicht, müsste "schöne" klein geschrieben werden.

Kommentar geändert am 02.04.2019 um 15:01 Uhr

 RainerMScholz antwortete darauf am 04.04.19:
Danke für die profunde Kritik.
Tatsächlich ist das ein Sackgässchen in Frankfurt gleich am Main, ob die Kneipe noch da ist, weiß ich nicht. Vielleicht ist auch die Gasse weg.
Grüße,
R.
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