Suffr-a-gogo

Kurzgeschichte zum Thema Verachtung

von  RainerMScholz

Aus den Augenwinkeln sah ich sie fallen, vielmehr erahnte ich es. Ich trank gerade eine Tasse Holunderblütentee und las die Abendzeitung, als der Schemel krachend zur Seite fiel, geräuschvoll über die Dielen wippte und quer im Flur zum Liegen kam. Ich trank den Tee und schenkte nach, ein halbes Stück Kandiszucker, Zitrone, ich rührte mit dem Löffel um. Sie schwang sachte hin und her zwischen Spüle und Brotkastenbeistelltisch, baumelte sozusagen von der Decke. Der Strick knarrte wie ein ungenagelter Lehnstuhl, der aus dem Leim zu gehen droht. Nun hatte Astrid also ihre ewige Drohung wahrgemacht. Seltsam, wie ruhig ich äußerlich war. Und innerlich auch. Astrid hatte sich eben, in diesem Moment – ihr Körper wird wohl noch warm sein -, keine fünf Schritte von meinem Platz im Wohnzimmer in ihrer Küche, also nebenan, das Leben genommen, war auf den Dachboden gestiegen, hatte ein verlässliches Seil ausgesucht, ist wieder herunter, hat die Deckenlampe vom Haken genommen, erstaunlicherweise das Seil mit einem festen Knoten dort befestigt, die rechte Länge abgemessen, den Schemel platziert, war hinaufgestiegen, hatte sich eine profunde Schlinge um den Hals gelegt, sie festgezurrt, und ist gesprungen, so dass sie jetzt ungefähr einen Viertelmeter über dem rotbraungekachelten Küchenboden schwebte. Astrid baumelt von der Decke, und ich trinke meinen Tee mit Kandis. Alles war sehr ruhig, bis auf das Knarren. Wahrscheinlich Auswirkungen  der Corioliskraft.
Seltsam eigentlich, dass unter zivilisierten Gesellschaften verurteilte Frauen entweder geköpft oder verbrannt, gevierteilt vielleicht noch, erschossen oder ertränkt, aber in den seltensten Fällen am Halse aufgeknüpft wurden, jedenfalls vor Einführung der Elektrizität oder Giftinjektionen. Frauen wurden geköpft, seit der Guillotine noch viel professioneller als zuvor, Männer durch den Strang hingerichtet, oder auch geköpft.
Klar und hell war der Abend, im Grunde eine unpassende Zeit, um die Welt mit solchen Unpässlichkeiten zu behelligen. Ich stand auf, um die leere Tasse ins Spülbecken zu stellen und lutschte dabei den Kandis, der sich in dem lauwarmen Tee nicht aufgelöst hatte. Astrid hing noch da, ihr Kopf war schief auf die Brust gesunken und ich glaube, die Zunge lugte ein wenig hervor. Ob ihre Fußspitzen wohl noch gezappelt hatten, nachdem der Schemel umgestürzt war? Oder ob sie sich das Genick gebrochen hat?
Warum nur wurden weibliche Delinquenten nicht auf die herkömmliche und lapidare Weise zu Tode gebracht. Die Henker müssen sich vor etwas Schamlosen gefürchtet haben, etwas, das die Anatomie des femininen Körpers anbelangt und eine unerwünschte schockierende Zurschaustellung nach sich zieht, wenn die verurteilte Dame in die Tiefe geglitten ist.
Ich kehrte aus dem Wohnzimmer zur Stätte des Geschehens zurück, stellte mich vor Astrid und sah mir den Leichnam meiner Frau an. Ich stoppte die leichte Drehung ihres Körpers, hob ihren beigen Faltenrock an und sah nach. Ich vermochte nichts Außergewöhnliches zu deduzieren. Sie hatte ihren Darm ein Stück weit entleert und ihre Unterwäsche war vorne von einem gelben Fleck beschmutzt. Doch sonst schien anatomisch alles an seinem Platz zu sein, kein Uterus war spontan herausgepurzelt, keine Eileiter, die an ihren Oberschenkel baumelten, keine Sturznachgeburt. Nichts dergleichen. Alles an der richtigen Stelle. Nichts zu sehen von einem zu befürchtenden Unfall oder Missgeschick. Die Henker der Vergangenheit waren schlicht abergläubisch.
Ich ließ ihren Rockzipfel los.
Jedoch werden sie sich schon etwas dabei gedacht haben.
Ich schloss die Tür hinter mir.
Mein Augenstern.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 LotharAtzert (26.02.19)
Cool erzählt. Respekt!

 RainerMScholz meinte dazu am 26.02.19:
Warum nicht.
Grüße,
R.
Hilde (62)
(27.02.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 RainerMScholz antwortete darauf am 28.02.19:
Aber nur, wenn sich ihr Mann ein Loch in den Kopf schießt.
Grüße,
Rainer
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