Sonntagnachmittag

Skizze zum Thema Beobachtungen

von  Xenia

Dieser Text ist Teil der Serie  Lebensfreude
Ein Mann, ganz in Grau gekleidet, sitzt vor meinem Fenster und trinkt heiße Schokolade. Ich schaue ihn erstaunt an. Dann öffne ich mein Fenster und bitte ihn herein. "Guten Tag. Was machen Sie denn vor meinem Fenster ?", frage ich ihn. " Guten Tag. Ich bin der Regen", antwortet er. "Das klärt meine Frage nicht ganz, junger Mann." Er lächelt. "Ich bin so jung wie der Morgentau und so alt wie das Meer", bemerkt er. Die Tasse in seiner Hand leert sich nicht, obwohl er ständig daran nippt. Ich bitte ihn, von seinem Getränk probieren zu dürfen, was er mir gestattet. Es schmeckt seltsam wässrig.

" Herr Regen, was machen Sie denn nun vor meinem Fenster?"
" Bitte, nenne mich doch Frank. Das ist mein Name. Wie heißt du, schönes Kind?"
" Alice."
" Ein schöner Name für eine hübsche junge Frau. Ich komme, um dir eine Frage zu stellen: Hast du schon einmal einen ganzen Nachmittag damit verbracht, den Regen zu beobachten, Alice? "
" Nein. Dazu habe ich für gewöhnlich keine Zeit. "
" Nun, Zeit kann man ja auch nicht haben. Sie ist in niemandes Besitz. "

Ich denke über seine Worte nach.

" Das mag sein, aber was hat das denn mit der Beobachtung von Regen zu tun, Frank? "
" Die Menschen sagen oft, sie hätten keine Zeit. Dabei haben sie sehr viel davon. Viele werden 60, 70, 80 Jahre alt. Sie reden von Langeweile und doch glauben sie, keine Zeit zu haben, um den Regen zu beobachten. "
" Ja. "
" Es ist eine Sache von Prioritäten. "
" Wie meinst du das? "
" Alice, ich sitze schon länger hier. Es ist auch nicht das erste Mal. Doch du hast mich vorher nie bemerkt. Kannst du mir sagen, warum nicht? "

Ich schweige. Eine passende Antwort fällt mir nicht ein.

" Du hast nicht auf deine Umgebung geachtet. Einen Mann meiner Größe muss man einfach entdecken, wenn er vor dem eigenen Fenster sitzt - Außer man ist ganz und gar in seinen Gedanken versunken oder nicht ganz da. In seinen Gedanken versunken zu sein, kann etwas sehr Schönes sein. Aber dein Gesicht sieht nur selten so aus, als seist du in angenehme Gedanken versunken. Bedrückt dich etwas?"

Ich schweige wieder. Oft bemerke ich nicht, was um mich vorgeht. Aber das liegt nicht daran, dass ich vollkommen in Gedanken versunken wäre. Es ist eher Unachtsamkeit, mit der ich durch mein Leben stolpere. Ich lasse mich nicht einmal treiben, sondern fühle mich oft, als würde ich von Mensch zu Mensch, von Lebenssituation zu Lebenssituation geschubst. Ich bringe Tage hinter mich und weiß am Abend nicht, was ich gemacht habe. Ich verschwende meine Zeit und denke dabei, keine zu haben. Es ist schon seltsam.

Als ich dem Regen dies erklären will, fallen mir die richtigen Worte nicht ein. Doch Frank lächelt und sieht mich mit erstaunlich jungen Augen an.
"Ich verstehe."

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (03.03.19)
Alice im Regenland. Der graue Kerl hat mich voll erwischt.

Freundliche Grüße
Isaban

 millefiori (03.03.19)
Eine fantasievolle Idee, dir mir sehr gut gefällt.
Liebe Grüße
millefiori

 Andalp (22.07.19)
cool!
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