Abgefahren

Kurzprosa

von  monalisa

Gestern wars, am Morgen, halb sieben, da nahm die Zeit einen kräftigen Schluck aus meinem Coffee-to-go-Becher und stöckelte damit die Hauptstraße hinunter. Ihr rotes Tuch flatterte im Wind, die Highheels, ebenfalls signalrot, legten eine signifikante Tonspur, der ich dicht auf den Fersen war, glaubte ich. Aber ohne meinen Morgenkaffee, untrainiert, pummelig, die Lider auf Halbmast, kam ich kaum von der Stelle. Doch schaffte ich es irgendwie, auf den anfahrenden Bus aufzuspringen, in dem die Zeit verschwunden war. Der Fahrer schimpfte, fluchte, fast hätte er mich gewürgt, und schloss hinter mir die Tür. Die Zeit lehnte am hinteren Ausstieg und schlürfte meinen Kaffee. Als ich sie fast erreicht hatte, drückte sie mir den leeren Becher in die Hand und hüpfte aus dem Bus, ich hinterher, obwohl ich besser noch zwei Stationen zu meiner Arbeitsstelle weiter gefahren wäre. Inzwischen war es nach sieben, mein Chef würde schon warten. Und ich wunderte mich, was wohl in dem Kaffee gewesen sein mochte, dass er die Zeit derart tunte. Nicht auszudenken, wo ich bereits sein könnte, wenn ich ihn selbst getrunken hätte. Die Zeit bog indessen hinterm Rathaus in die Nachlaufstraße ein, und ich musste noch einen Zahn zulegen, wenn ich sie im Gewusel der Leute nicht verlieren wollte. Ich schwitzte und schnaufte. Sie lief nur noch schneller. Unmöglich, schon fast acht, dachte ich, als ich ihr in die Rettungsgasse folgte, zwei, drei Schritte, und zusammenbrach. Da drehte sie sich nach mir um. Die Zeit im Businesskleid mit rotem Tuch, kam auf mich zu, fühlte meinen Puls, zückte ihr Handy, drückte den Notruf und verschwand, sobald man mich in den Sanitätswagen gehoben hatte und mit Blaulicht über den Ausweg zum Klinikum Dolcefarniente fuhr.



März 2019

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(16.03.19)
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 monalisa meinte dazu am 16.03.19:
Danke, Sätzer, der Text ist ein Experiment, ich bemühe Prosa ja sehr selten, aus Angst sie zu sehr zu strapazieren
Umso wichter sind mir Rückmeldungen!

Liebe Grüße
mona

 EkkehartMittelberg (16.03.19)
Hallo Mona,
dein Text hat es in sich. Bei oberflächlicher Betrachtung läuft jemand zu hastig der Zeit hinterher und übernimmt sich dabei. Die Zeit mit ihrem roten Tuch und den Highheels ist sexy, ganz anders ihr Verfolger, ein pummeliger braver Bürokrat, der sich Sorgen macht, nicht rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Der untrainierte Verfolger der temporeichen Zeit bricht schließlich zusammen. Dann passiert das Überraschende: Die Zeit im Businesskleid, ein Kind des Business also, ist nicht herzlos, aber tut nur das unbedingt Nötige für den Kollabierten, nämlich den Notruf zu verständigen und gerade so lange zu warten, bis der Kollabierte ins Klinikum Dolcefarniente gefahren wird. Die Erzählerin deutet an, dass dieses ein Ausweg sei.
Der rätselhafte Text bietet jetzt Raum für unterschiedliche Deutungen. Meine ist, dass die Zeit zwar dem Business verfallen, aber noch nicht total pervertiert ist, denn sie hat einerseits keine Zeit, den Zusammengebrochenen ins Klinikum zu begleiten, aber sie leitet andererseits seine Rettung zu einem sinnvollen Ziel ein: dem Klinikum Dolcefarniente. Die Zeit ist also ambivalent: Man sollte ihr nicht hinterherjagen, aber ihr helfen, das Businesskleid auszuziehen.
Der Text gefällt mir sehr, Mona. Du solltest öfter Kurzprosa schreiben.
Herzliche Grüße
Ekki

 monalisa antwortete darauf am 18.03.19:
Hallo Ekki,
es freut mich sehr, wie du diesen ganzen RUN um die Zeit und sie selbst interpretiert hast. Nein, herzlos ist sie wohl nicht, obwohl mit ihr zusammenzuarbeiten nicht immer gar leicht ist; Projektionsfläch für das, was wir in ihre sehen (wollen), auch nur bedingt. Sie scheint ihren eigenen Kopf, ihr eigenes Tempo zu haben, manchmal ganz konträr zu unseren Vorstellungen, unserem Tempo.
Ich danke dir ganz herzlich für deine ermutigenden Worte zu meinen Prosaversuchen. Das baut natürlich ungemein auf!

Liebe Grüße
mona

Antwort geändert am 18.03.2019 um 08:18 Uhr

 GastIltis (16.03.19)
Hallo mona, dein Text ist abgefahren und dir geht es gut. Das ist wesentlich. Im süßen Nichtstun gelandet, nicht glücklich, zumindest mit dem Text höchst zufrieden. Ein Text nicht zum Miterleben, zum Lesen! LG von Gil.

 monalisa schrieb daraufhin am 18.03.19:
Hallo Gil, danke für deine Worte. ich weiß nicht, ob ich sie ganz verstehe. Was bedeutet es, wenn ein Text nicht zum Miterleben sondern zum Lesen ist? Ob ich zufrieden damit bin, kann ich noch nicht sagen, ist so neu für mich.

Liebe Grüße
mona

 GastIltis äußerte darauf am 18.03.19:
Lass es noch einwirken, das Gefühl des Dolcefarniente. Das Lesen des Textes war es wert. Gruß Gil.
Trainee (71)
(16.03.19)
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 monalisa ergänzte dazu am 18.03.19:
Hallo Trainee
vielleicht eine heimliche Hoffnung von mir mit BLAUlicht ins Dolcefarniente eingeliefert zu werden . Aber lange würde ich es dort wohl nicht aushalten. Ein kleiner Bummel, Hand in Hand mit meiner Zeit, durch die Denknischen im Hinterstübchen, ein wenig Kramen auf dem Dachboden der Erinnerungen, eine Wanderung durch die Weinberge ... das wär schon was

Vielen Dank für deine aufbauenden Worte,
liebe Grüße
mona
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