Die Schonung

Text zum Thema Licht

von  RainerMScholz

Sie trafen sich an geheimen, abgeschiedenen Orten, immer im Dunkel, im Zwielicht, im rotglühenden Scheinen der untergehenden oder im eisklaren der sich neu erschaffenden Sonne, wenn der Atem im Dämmer als graue Wölkchen vor den Gesichtern steht, wenn in der schwülen Hitze einer Hundstagenacht die Haut noch vom Tage brennt. Sie küssten sich, zart und kaum eine Berührung andeutend, die Lippen aufeinandergesenkt, sie küssten sich leidenschaftlich, fast schmerzhaft, wenn die Zähne aufeinanderstoßen und die Zunge nicht tief genug in die Mundhöhle des anderen scheint versinken zu können, wenn sie wie wilde Schlangen warm umeinander kämpfen in selbstvergessener völliger Hingabe. Die Hände ineinander verschränkt saßen sie da und schwiegen, sahen sich in die Augen, sahen in den Himmel oder sahen mit geöffneten Augen in das eigene und das fremde Innere, die Iriden griffen zärtlich und doch frei ineinander. Sie redeten nicht, sie schwiegen, reden war überflüssig, unnötig und störend, das Gespreize und Getue und die banale Unterhaltung, die aufdringliche und obstruierende Selbstdarstellung. Kein falsches Gebaren. Keine Konventionen. Kein durch modulierte Laute erzeugtes dissonantes Rauschen. Kein Falsch. Sie küssten sich mit aller Leidenschaft und ihrem ganzen Wesen. Und wenn es vorüber war, dann trennten sie sich wortlos und gingen auseinander, ohne Abschied, ohne Verabredung, ohne Zukunft und ohne Pflicht. Sonst taten sie nichts. Sie waren jung.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (02.04.19)
Hallo Rainer,

der Text gefällt mir sehr gut.

Schau doch bitte hier noch einmal nach den Zeitformen:

Sie küssten sich, zart und kaum eine Berührung andeutend, die Lippen aufeinandergesenkt, sie küssten sich leidenschaftlich, fast schmerzhaft, wenn die Zähne aufeinanderstoßen und die Zunge nicht tief genug in die Mundhöhle des anderen scheint versinken zu können, wenn sie wie wilde Schlangen warm umeinander kämpfen in selbstvergessener völliger Hingabe.

LG Isaban

 RainerMScholz meinte dazu am 04.04.19:
Ich würde die Gegenwartsform in dem in der Vergangenheit präsentierten Satz gerne so belassen, um die Allgemeingültigkeit des erotischen Impetus zu betonen.
Grüße + Dank,
R.
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