Worte fallen

Gedicht

von  juttavon

aus den Händen flügellose Wilde
zerreiben die Wachtürme
zu rieselndem Sand von Minute zu Minute
gezählte Zartheit und Gewicht

fliehen in die Felsen
Spuren sind einsam
der Eindruck ins ganze Leben
aus dem wir flügellos stiegen
zu klarer Luft hin und zu Hütten

sie rochen nach Milch und Holz
wir hätten Flügel gebraucht als Kind
kletterten wir auf Bäume mit großem Herz‘
rieben die Wangen rot
an Hundefell und Flüsterwort

zwischen den Schulterblättern
wachsen keine Flügel mehr
nun flieg‘ ich zu dir und zu mir
mit Händen
voller Worte

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Kommentare zu diesem Text

Agneta (62)
(19.04.19)
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 juttavon meinte dazu am 23.04.19:
Danke, liebe Agneta!
HG Jutta

 Habakuk (23.04.19)
Liebe Jutta,

ein ausdrucksstarkes und sprachmusikalisches Gedicht, das auch stilistisch und inhaltlich zu überzeugen weiß. Konsonanten, wenn wir sie sprechen oder singen, ebenso wie die Vokale, üben eine wirkungsvolle Resonanz im Körper aus.
So wie Farben in einem Gemälde ihre eigene Sprache sprechen – ein kühles Blau, ein beruhigendes Grün, ein flammendes Rot – kann der Klang von Wörtern eine bestimmte Stimmung transportieren.

Alle Strophen, so dünkt es mir, versuchen eine Balance zwischen hellen und dunklen Vokalen, weichen (stimmhaften) und harten, scharfen (stimmlosen) Konsonanten zu wahren, wobei letztere jeweils eher eine agressive, harte, zornige, trübe, gedrückte Stimmung wiedergeben. Anzufügen ist, dass Konsonanten am Wortende stets als hart und stimmlos klassifiziert werden. Vokale a, o, u, au bezeichnet man als dunkel. U und O vermitteln eine Stimmung von tiefen Tönen, von Dumpfem, von schwer Lastendem oder Bedrohlichem. „Regnet es „a, o und u“, zieht sich die Stimmung zu! Exemplarisch hier das agressive „W“ in „Wilde, Wachturm“, wenngleich das W theoretisch auch sanftes Wohlgefühl auszudrücken vermag (z. B. wohlig, warm weich, wunderbar, Wonne). Ferner das Präfix „zer“ mit seinem scharfen „z“ in Verbindung mit dem agressiven „r“ in „zerreiben“. Im Gegensatz dazu die hellen, weichen Umlaute „ä, ü“ sowie die weichen Konsonanten (b, d, f, h, m und n) in der ersten und den folgenden Strophen. Die Konsonaten „k, p, r, t“ drücken das Gegenteil aus.
Zu den hellen Vokalen zählen die Buchstaben e und i. Hinzu kommen die Diphthonge äu beziehungsweise eu und ei sowie ie. Auch zu den hellen Vokalen gehören alle Umlaute, also ä, ö und ü. Auf die Konsonanten im Einzelnen einzugehen wäre zu umfangreich.

Diesbezüglich wirken auch die zweite, dritte und vierte Strophe sowohl relativ düster als auch freundlich-hell, was die Klangfarbe durch die Aussprache einzelner Laute, die ja die Stimmung ausdrücken, anbelangt.
In allen Strophen wird der Rhythmus und Sprachklang sowohl von Assonanzen, Alliterationen als auch Konsonanzen erzeugt, aber nicht unerheblich ebenso durch die Klangfarbe der Vokale und Konsonanten.
Beispiele für Alliteration:
wilde/Wachtürme, Minute/Minute, gezählte/Gewicht, fliehen/Felsen, einsam/Eindruck, Spuren/sind, Leben/Luft, Hin/Hütten, Kind/klettern, rieben/rot, Herz/Hundefell, Flügel/Flüsterwort.
Beispiele zu Assonanzen:
bei a: aus/Wachtürme/Sand/auf
bei u: zu/Luft/Minute
bei i: fliehen/in/die/sind/einsam/Eindruck/ins/stiegen/
etc. pp.

Zum Inhalt einige Sätze. Das lyr. Ich beschreibt m. E. seinen rückwärtsgewandten Blick auf die Kindheit. Hände assoziiere ich mit Handeln, Begreifen, Erkennen, will sagen, Hände sind mit dem Akt der Erkenntnis verknüpft. Im weiteren Sinne könnte man das Gedicht auch als Beschreibung eines Entwickelungsabschnitts der Individuation (C. G. Jung) betrachten. Dass dieser Vorgang mit einer gewissen Agressivität einhergeht, habe ich weiter oben angesprochen.
Das Ich erkennt die „Wilden“ in sich. Wild verknüpfe ich hier mit ursprünglich, unverbogen, ungezähmt, natürlich, kurzum: Das ursprüngliche Kind in uns.
Das Ich erkennt womöglich sein inneres Kind. Die inneren Schutzmauern, die zum Überleben nötig waren, können fallen. Das Über-Ich in Gestalt des Eltern-Ich als Gefängnis mit Wachtürmen bildlich dargestellt, könnte auch ein Blickwinkel sein. „Zartheit“ im Gedicht meint vllt. Zerbrechlichkeit, Verletzlichkeit, „Gewicht“ evtl. Schwere, Last, Bürde.

2. Strophe:
„Fliehen in die Felsen“ ist ein deutungsschwangeres Bild mit vielen Ebenen. Fels assoziiere ich mit Unveränderlichkeit, Sicherheit, Idealismus, innerer Festigkeit, Ausdauer, Standhaftigkeit und unerschütterlichem Selbstvertrauen. Allgemein kann darin auch eine starke Persönlichkeit zum Vorschein kommen, deren Leben auf einer sicheren Grundlage steht, von festen Überzeugungen getragen wird, die dadurch vielleicht aber auch etwas unbeweglich und intolerant wirkt. Wenn der Mensch auf festem Grund steht, kann er überleben. Ein möglicherweise spiritueller Aspekt könnte ebenfalls in dem Bild „Fels“ enthalten sein.

Die Spuren einer Kindheit können sich ins Leben einbrennen, einen dauerhaften Eindruck hinterlassen. Wir müssen uns ihnen zuwenden, sonst bleiben sie „einsam“.
„Klare Luft, Hütten“. Stickige Luft deute ich als ein Bild für unbewältigte Probleme oder die Schwierigkeit, sie zu bewältigen. Klare Luft ist das Gegenteil davon. Hütten sind ein Symbol für Geborgenheit, für einen sicheren Ort in einer bedrohlichen Situation, ein Sinnbild für Zuflucht.
Sie rochen nach Milch und Holz. Milch kann für Mütterlichkeit, Geborgenheit, Zuwendung stehen. Holz ist stabil, gleichzeitig aber wandelbar und elastisch. Als Brennstoff verwendet, wird Wärme damit in Verbindung gebracht. Die chinesische Philosophie geht davon aus, dass sich die fünf Elemente Feuer, Erde, Metall, Wasser und Holz im Gleichgewicht befinden, aber sich gegenseitig beeinflussen. Daher ist es wichtig, die Bedeutung und Symbolik jedes einzelnen zu kennen, um ihr Zusammenwirken verstehen zu können.

Die dritte Strophe rekapituliert einige schöne Kindheitserlebnisse. Womöglich beschreibt sie aber auch, wie ein Kind sich aus bedrückenden Umständen in seine kindliche Fantasiewelt zurückzieht.

Die letzte Strophe zieht ein Resümee. Ja, wir hätten Flügel gebraucht. Kinder haben in ihrem ursprünglichen Zustand diese Flügel, bis sie ihnen gestutzt werden. Als Erwachsene haben wir diese Flügel nicht mehr, müssen es uns hart zurückerobern, wieder zum Kind werden zu dürfen. Der Trigraph und Zischlaut "Sch" in „Schulterblätter“ sowie das scharfe Z in „zwischen“ drücken vllt. nochmals Schärfe, Kraft, Zorn, Aggression aus. „Nun flieg‘ ich zu dir und zu mir mit Händen voller Worte“, will sagen, das lyr. Ich macht sich auf, mittels geistiger Arbeit sein Bewusstsein zu entwickeln (fliegen), zu Begreifen (Hände), Schritt für Schritt sich seinem Selbst (Individuation), (zu mir), anzunähern, ohne zwischenmenschliche Aspekte auszuklammern (zu dir).

Ein schönes Gedicht, liebe Jutta. Klangfarbig und bildhaft. Sprachmusikalisch zudem. Gefällt mir sehr.
Ein wenig lang geworden, mein Kommentar. Aber ich wollte ja noch mal doppelt zuschlagen, wie angekündigt.

HG
H.

Kommentar geändert am 23.04.2019 um 01:27 Uhr

 juttavon antwortete darauf am 23.04.19:
Herzlichen Dank, lieber H., für Deine feinsinnigen Einsichten.
Dein Kommentar entfaltet das Gedicht vor dem bewussten Auge.

HG Jutta
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