Eintopf

Kurzprosa zum Thema Kinder/ Kindheit

von  Moja

Sie geht noch nicht zur Schule, 1960 muss es sein. Täglich fährt sie mit der Mutter früh am Morgen über eine große Eisenbahnbrücke. Vom Fenster aus sieht sie die Spree. Dann schließt die Mutter eine Eckkneipe an einem Kreuzberger Ufer auf. Sie folgt ihr in den dämmrigen Raum mit dem dunklen Mobiliar und atmet abgestandene Luft ein, säuerlich schal riecht es, nach Bier und kaltem Rauch. Niemand ist da. Sie darf am Fenster sitzen und warten. Aus einer Illustrierten reißt die Mutter eine Seite, knüllt das Papier und stopft es in ihren kleinen roten Plastiktopf. „Immer schön umrühren!“, sagt sie und putzt weiter. Sie rührt und rührt. Manchmal schaut sie aus dem Fenster. Ein Pferdefuhrwerk hält. Kräftige Männer, hemdsärmelig mit Lederschürzen, steigen vom Bock, rollen dickbauchige Holzfässer zum Kellerfenster. Die Tür geht auf. Die Bierkutscher kommen lärmend herein. „Schön umrühren“, mahnt die Mutter spöttisch und zwinkert den Männern zu. „daraus wird Suppe.“ Noch immer rührt sie das zerknautschte Papier um. Die Bierkutscher sehen auf das Mädchen herab, lugen in den Topf, sie grinsen die Mutter an – und wiehern los.

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Kommentare zu diesem Text


 AchterZwerg (18.06.19)
Solche Szenen (außerhalb einer Kneipe) habe ich noch live erlebt. Die Brauereipferde mochte ich besonders gern, weil die so kräftig und zuverlässig wirkten. Die hatten so lang bewimperte Traumaugen. Und diese schnuckligen Pelzumhänge über den Hufen ...

An dieser Kurzprosa mag ich den in sich geschlossenen Themenkreis: Das Wiehern der Pferde - das Wiehern der Männer in ihren Lederschürzen.
Und das gedemütigte Kind in der Mitte.

Liebe Grüße
der8.

 Moja meinte dazu am 18.06.19:
Was Du für schöne Bilder in mir wachrufst, 8. - ja, diese großen dunklen Pferdeaugen! Danke für Deine Einschätzung und lieben Gruß, Moja
Sätzer (77)
(18.06.19)
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 Moja antwortete darauf am 18.06.19:
Der Trichter-Effekt (Gil-Gedicht) wirkt eindeutig nach, gute Besserung! Dank für Kommentar und Empfehlung, Moja grüß!t

 GastIltis (18.06.19)
Wenn das Kind Glück hatte, war auf dem Blatt von der Illustrierten ein Rezept. LG vom hungrigen Gil.

 Moja schrieb daraufhin am 18.06.19:
Ganz bestimmt, Gil, in welchen Trichter soll ich die Suppe denn füllen? Mitfühlende Grüße, Moja

 FrankReich (18.06.19)
Ich versuche mir gerade vorzustellen, von welcher Schraube sich diese Mutter wohl gelöst hat. :O

Ciao, Ralf

Kommentar geändert am 18.06.2019 um 18:53 Uhr
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