"du musst dein Leben ändern"

Gedicht

von  juttavon

– Rilke in: Archaischer Torso Apollos –

ich stoße ja nicht an dich
wenn Glas an Glas wir seufzen
das Glas so rissig ist
Gefahr für überschwemmte Sinne
fliehenden Sinn
das neuzeitlich entdeckte Ich
taucht in die Kraft des Du oder Wir
oder fremd
was bleibt dass wir uns trauen können
für manche Tiere zu schreien
oder schreiben oder überschreiten

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Kommentare zu diesem Text


 Habakuk (01.07.19)
Ein beeindruckendes Gedicht, liebe Jutta, was Sinnhaftigkeit, Sprachrhythmus und Musikalität anbelangt. Auf Stilmittel, die ich durchaus sehe, wie Assonanz und Konsonanz, auch Alliteration stellenweise, gehe ich nicht extra ein, da mir der Versuch einer Deutung wichtiger erscheint.

Du musst dein Leben ändern! So lautet die Aufforderung des Titels. Was ist Leben?
Das Leben ist kein Konglomerat von vagen, nicht genauen, nicht klar umrissenen, unbestimmten Ereignissen oder Zufällen.
Das Leben ist ein Spiegelbild unserer Meinungen, Ansichten, Überzeugungen, Vorstellungen, Wahrnehmungen, Einbildungen, Glaubenssätze, unserer Betrachtungen, unserer Anschauungen.
Wenn ich das Leben als unzuverlässig, als böse, gefährlich, als hinterhältig, als nicht vertrauenswürdig, als unkalkulierbar ansehe, werde ich es so erleben. Wenn ich von schamhaften Gedanken beherrscht werde, werde ich beschämt werden, bei schuldhaften Gedanken beschuldigt, etc. pp. Das Leben als Spiegel unserer selbst, wenngleich verzerrt durch unsere Projektionen. Das Problem ist, viele unserer Überzeugungen schlummern im Unbewussten.

„ich stoße ja nicht an dich / wenn Glas an Glas wir seufzen“

Nein, du stößt nicht an mich, ich stoße stets an mich selber. Und umgekehrt. Was zusammenstößt und das Glas u. U. zersplittern lässt, sind unsere Projektionen, unser Projizieren auf andere. Ein gemeinsames Seufzen sollte nie aus dem Auge verlieren, dass es zuallererst ein Seufzen über sich selbst ist.

„das Glas so rissig ist / Gefahr für überschwemmte Sinne / fliehenden Sinn“

Glas als Sinnbild der Transparenz und des himmlischen Elements, will sagen, der Aufhebung aller Grenzen, aller vermeintlich unvereinbaren Gegensätze, ein Bild für eine metaphysische Dimension, aber durchaus auch ein Bild für den tieferen, wahren Zustand des Menschen.
Das Glas ist nicht rissig. Wir spiegeln uns nur darin.

Das chinesische Schriftzeichen für Krise besteht aus zwei Teilen: der eine Teil symbolisiert Gefahr oder Risiko, der andere Chance. D.h. eine Krise ist eine gefährliche Chance. Wenn wir die Chancen von Krisen erkennen und nutzen, dann können wir uns weiterentwickeln und wachsen.
Zufälle sind Illusion. Alles hat potenziell Sinn und kann wachstumsfördernd sein. Aber nicht alles Tun ist zwangsläufig sinnvoll.
Um den „fliehenden Sinn“ zu erkennen, bedarf es Achtsamkeit, Selbsterkenntnis, Bewusstwerdung.
Die Sinne sind die Pforten unserer Wahrnehmung. Wahrnehmung erschafft u. a. die Welt. Unsere Sinne können überschwemmt sein, überflutet, sowohl von geistigen wie materiellen Belangen. Der unsachgemäßen Umgang damit birgt Gefahr. Eine Saite, die zu straff gespannt ist, reißt. Eine Seite, die zu schlaff gespannt ist, klingt nicht. Der Weg der Mitte ist anzuraten.

Im Folgenden möchte ich etwas zum Titel sagen:

Wenn ihr euch (selbst) erkennt, dann werdet ihr erkannt werden. Wenn ihr euch aber nicht erkennt, so seid ihr in Armut und ihr selbst seid die Armut. Das steht im apokryphen Thomasevangelium. Ähnlich die einstige Inschrift am Apollotempel von Delphi: Erkenne dich selbst.
Konkreter der Ausspruch Jesu im NT: Auf Griechisch lautet diese Aufforderung "Metanoiete!" Damit ist wörtlich „Umkehr" gemeint.
Wenn Jesus also Menschen zur Umkehr aufruft, dann will er, dass seine Zuhörer zunächst erkennen, wie ihr Leben verläuft. Sie sollen sich selbst erkennen. Wer umkehren soll, soll etwas Bestimmtes an sich erkennen, nämlich, dass das eigene Leben in eine falsche Richtung verläuft. Sonst macht die Aufforderung keinen Sinn.
Hier schließt sich der Ring zu deinem Gedichttitel. „Du musst dein Leben ändern“.

das neuzeitlich entdeckte Ich / taucht in die Stärke des Du oder Wir / oder fremd
Du nimmst Bezug auf S. Freuds „ICH“. Näher darauf einzugehen, sprengt hier den Rahmen. Der Weg kann nur sein: Vom ICH zum DU zum WIR. Das Ich ist nur eine vorübergehende Chimäre, die aber für unsere Entwickelung notwendig ist.

„was bleibt dass wir uns trauen können / einfach für manche Tiere zu schreien /
oder schreiben oder überschreiten“

Tiere stehen allgemein für Triebe, Instinkte, Leidenschaften und Begierden, für alles das also, was man als primitiv ablehnt, aber doch nicht übermäßig unterdrücken darf. Grob gesagt ist es das „ES“ in Freuds Strukturmodell der Psyche. „Zu schreien“ interpretiere ich mit akzeptieren, als zu sich gehörend wahrnehmen, als ein nicht verdrängen bzw. unterdrücken. Das Unterdrückte, Verdrängte schreit sinnbildlich.

Tiere stellen Energiefelder aus den Tiefen der Seele dar und repräsentieren unsere Triebe und Instinkte, die von unserem Über-Ich, jene durch die Erziehung entwickelte und als eine Art Richtschnur der Kontrolle dienende, regulierende Instanz der Persönlichkeit verurteilt und durch Selbstbestrafung sogar sanktioniert werden können (S. Freud). Hier rede ich nicht einem zügellosen Ausleben das Wort, vielmehr einer Umgestaltung bzw. Transformierung. Dass das nicht von heute auf morgen geht, dürfte klar sein. Zu Beginn steht auch hier das Erkennen.

„was bleibt dass wir uns trauen können /

Eine Umkehr am Grunde unseres Bewusstseins ist vonnöten. Wir können uns nicht nur trauen, wir müssen uns trauen, wenn wir uns bewusstseinsmäßig entwickeln wollen. Durch unsere Schatten zum Selbst zu gelangen im Sinne von Jungs Individuation.
Eine Veränderung unserer Überzeugungen und Glaubenssätze, aber auch unserer Worte, unseres Denkens ist notwendig. Unsere Gedanken haben mehr Macht, als wir uns vorstellen wollen. Transformation ist der Weg, das Gedicht nennt es „überschreiten“.

Dein Gedicht enthält eine Fülle von in die Tiefe reichenden Gedanken, liebe Jutta. So lese ich es zumindest.
Für mich ist es ein sehr starkes Gedicht. Ich habe mal einen gewagten Interpretationsversuch gemacht.

HG
H.

 juttavon meinte dazu am 03.07.19:
Danke, lieber H., für Deinen Kommentar, der mein Gedicht mit auf die Reise nimmt. Die Gedanken zur Metanoia treffen es.

Mit Deinen Gedanken - wie "Das Leben ist ein Spiegelbild unserer Meinungen (...)" und "Das Glas ist nicht rissig. Wir spiegeln uns nur darin." - gehst Du sehr in die Tiefe; mir ein wenig zu sehr in Richtung eines um sich selbst kreisenden Subjekts.
Vielleicht so: Es gibt ein Wechselspiel, eine innere Abhängigkeit zwischen "Leben" und unseren "Meinungen" usw.

HG Jutta

 HerzDenker (11.01.22, 11:11)
Die inspirierende Kraft Deiner großen Verse möchte ich in einem eigenen Gedicht zu zeigen versuchen:

Niemand wird anstößig,
wenn wir beide uns heute dem gemeinsamen Wahrheits-Wein zuwenden.
Auch wenn das Fließende in unseren Kehlen
So wenig für feste Sinnenklarheit zu stehen scheint.
Glas um Glas erkenne ich mich selbst mehr und mehr im Du,
also sehe ich gerade nicht „doppelt“, sondern im Gegenteil!
 
Die Wahrheit steigt in uns auf grüßt und lächelt im Dazwischen –
Denn erst wenn Du auf diese besondere Art „bei mir“ bist-
Sehe ich die Dinge klar – so wie sie sind!


-Das leichte Augenzwinkern, mit dem ich immer wieder gerne zu Wortspielen neige, sei mir verziehen. 
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