Im Dickicht des Verstehens: (2) Tod und Erinnerung in Ekkeharts Ode.

Essay

von  Willibald

Illustration zum Text

"I paint  flowers so they will not die."
Frida Kahlo

„Wer dichtet, der klinkt sich in ein manchmal bereits seit langem laufendes Gespräch ein,
und wer Gedichte liest, der findet sich häufig unversehens im Schnittpunkt
vielfältigster Botschaften und mehr oder weniger verschlüsselter Mitteilungen,
die ihm auch dann zu denken geben können, wenn sie ihm gar nicht zugedacht gewesen waren.“
Robert Gernhardt


(1) Unsterblichkeiten

Das Dilemma des Menschen, einen Geist zu haben, aber ein Körper zu sein, tritt kaum schmerzlicher und deutlicher zutage als in den Mythen der Unsterblichkeit. Schmerzlich, weil wir wissen, dass der Körper den sicheren Tod findet. Deutlich, weil der Geist sich dessen bewusst ist und nach Trost sucht, so angestrengt, dass er dabei tatsächlich vergessen kann, was er doch sicher  weiß.

In vielen Kulturen nämlich behauptet magisch-religiöses Denken, es gebe Wesen, seien es Götter, seien es vergöttlichte Menschen, die ganz davon befreit sind zu sterben. In einer „minderen“ Form existiert Unsterblichkeit dort, wo Sterben und Totsein gelten, aber der biologische Tod kein Schlusspunkt ist: Der Mensch lebt als Seele oder als beseelter, vielleicht verklärter Leib fort, in einem Totenreich, im Jenseits, im Diesseits.

Und selbst der Skeptiker, der Physikalist und Naturalist, setzt immer wieder auf Unsterblichkeitsoptionen, wenn auch in einer „Schwundform“: Das Replizieren des genetischen Codes in Liebe und Sexus ist eine Form des Überlebens. Man pflanze sich in Kindern und Kindeskindern fort - der biologische Tod des einzelnen Individuums, so könnte man folgern, er ist kein absolutes Ende.

Anders und ähnlich funktioniert das Replizieren im „Kultur-Gen". Der ruhmreiche Held, sein im Gruppengedächtnis gespeichertes Bild, überlebt den Tod. Das Bild ist in den Memen eingelassen, im kulturellen Gedächtnis eines Volkes, und zwar in jenen seltsamen Narrativen der Glückssuche, die wir immer wieder heraufbeschwören, in den magisch-statischen Momenten des lyrischen  Liedes, den dramatischen Bewegungen des Erzählens.

Und - mit den Texten überleben die Autoren. Als Diener des Nachruhms, als Diener der Unsterblichkeit partizipieren sie an der "Ewigkeit" ihrer Figuren und ihrer Verse. Auch dort, wo sie sich selber vertexten und nicht den fremden Heroen 1) ein Lied singen. Ein wenig weniger pathetisch: Lyrische Texturen besitzen spirituelle Autorisierung. Allein schon der Rhythmus im hohen Epos, in der Lyrik, vielleicht gestärkt vom Reim  und Assonanz, all das arbeitet am Programm des Überlebens und Erinnerns, der poetische Text  konserviert seine Sätze. Mittels Wortwahl, Wortnetz, Klang und Rhythmus, das ist seine Magie2).

(2) Poetische Möglichkeiten

Hier - in dieser langen Traditionskette - ist denn auch Ekkeharts Ode – bei aller Abweichung – zu verorten. Kein Elfsilber, kaum ein rhythmisches Grundmuster. Aber - in  Anlehnung an griechische Vorbilder - der Musenanruf, genauer der Anruf an die Mutter der Musen. Eine Ode auf die Erinnerung, auf Mnemosyne, zu finden auch in der Unterwelt, aber anders als Lethe nicht in der Domäne des auslöschenden Vergessens.


Ode auf die Erinnerung

Dich Mnemosyne, Mutter der Musen, Göttin der Erinnerung, will ich besingen.
Ohne dich, du Barmherzige, wären wir Menschen nicht nur dem Tode,
sondern auch dem Vergessen verfallen.

Du stellst Dichtern die geschauten Bilder
wieder vor Augen und befähigst sie kraft der Erinnerung
in Worte zu kleiden,
was dumpfe Erinnerungslosigkeit verschütten würde.
Du entreißt geliebte Verstorbene dem Dunkel des Nichts
und lehrst uns, mit ihnen Zwiesprache zu halten.
Du rufst die Zärtlichkeiten einer verflossenen Liebe
in Erinnerung zurück und lässt sie nie ganz sterben.
Wir können dich nicht genug preisen,
denn du erhältst unser Leben.
Ohne dich müssten wir alles Gelernte
immer wieder von neuem lernen
und lebten absurd wie Sisyphus.

Aber du bist nicht nur angenehm und verwöhnst die Menschen,
die ohne dich ihre Schandtaten verdrängen würden,
um sie gewissenlos wiederholen zu können.
Du entziehst ihre Vergehen dem bequemen Vergessen,
sendest erhellende Träume und mahnende Propheten,
schärft das Gewissen mit abschreckenden Bildern
und weist Verirrten den Weg zur Umkehr.
Deshalb bist du mit umfassendem Wesen die Mutter der Musen,
Quelle der Erinnerung an alles Schöne  und Gute,
die den unvollkommenen Menschen den Tod erträglich macht.


Ekkehart Mittelberg,
(Rahmenmarkierung von ww)

Meditativ und  preisend, in eher freien Rhythmen, fernab vom Reim, dafür in der Wortwahl und im Beziehungsgeflecht der Worte und der Gedankenführung gebunden, entwirft der Texter seine poetische Rede.

Die „Göttin der Erinnerung“ ist „barmherzig“, sie kann den Tod nicht verhindern, aber sie kann  Erinnerung  spenden und so „den Tod“ erträglich machen. Das ist der Rahmen des Gedichtes. Eingeschoben über die Konjunktion „deshalb“  der Rückverweis auf eine Argumentation und der Vorverweis auf ein begründetes Fazit: Die Mutter der Musen kann über die Erinnerung den Tod „erträglich“ machen. So ist denn die Einleitungsthese gestützt und plausibel.

Den thesenhaften Rahmen füllt nämlich  der Hauptteil des Textes mit seiner lyrisch preisenden Argumentenfolge, Zunächst geht es um die „Annehmlichkeiten“ der Erinnerung: Poetisierung, Dialog mit Verstorbenen,  Revitalisierung erinnerter Zärtlichkeiten, Speichern von Lernprozessen und die Abwehr von absurder Wiederholung im Sisyphus-Modus.  Dann im graphisch abgesetzten zweiten Abschnitt das Unbequeme, das aber dennoch und deswegen so wertvoll ist: Die Fixierung von Unrecht und die Schärfung des Gewissens, eine Wirkung des erinnernden Bewusstseins. 

(3) Verbindlichkeiten

Was ist das für ein Trost? Was ist das für ein „Erträglichmachen“ in einer Welt, die aus makroskopischer Perspektive mit Schopenhauer so gesehen werden kann:

"Im unendlichen Raum zahllose leuchtende Kugeln, um jede von welchen etwa ein Dutzend kleinerer, beleuchteter sich wälzt, die inwendig heiß, mit erstarrter, kalter Rinde überzogen sind, auf der ein Schimmelüberzug lebende und erkennende Wesen erzeugt hat – dies ist die empirische Wahrheit, das Reale, die Welt."

Gibt es ein Mehr?

Offen, mehr als offen die Antwort. Zunächst einmal: Die Sprache erfasst in diesem Gedicht, was ist: Die  kalte Rinde Schopenhauers passt zur Evolution, zum  mitleidlosen Todesstrom, in dem sich die Gene bewegen und der die Gene sind. Dies zu benennen heißt wahre Rede. Heißt das, im Benennen liegt Trost? Vielleicht.

Aber doch auch ein wenig billig, das "Argument aus der Bannung des Schrecklichen durch die Magie der benennenden Sprache"?
Und wie belastbar ist das tröstende Argument aus  der "Ekloge auf die göttliche Erinnerung"?
Auch ein wenig billig? Oder doch nicht?

Manchmal glaube ich, solche Texte wie die Ode von Ekkehart  brechen die Verzweiflung auf, weil sie wissen, dass ein anderer sie liest und dass sie Kürzel sind, Kürzel für gemeinsame Vorstellungen. Manchmal schaffen sie im naturhaften Schema von Vernichtungswettbewerben kontemplative Schutzräume, unterhöhlen den Vulgärdarwinismus und beweisen die Existenz von etwas, das man Empathie und vielleicht auch Mitleid nennen kann. Bewusstsein und Gewissen.

Das aber ist ein Argument für die Möglichkeit von wahrer Rede im Gedicht und in der Kunst. Der poetische Stenograph schreibt mit, er erfasst sie, die Stimme des  Herzens  in der Finsternis. Er fixiert im zynischen Zufall der Lebensgeschichten ein vielfach gebrochenes System des Zusammenhalts und sieht dort die Mutter der Musen am Werk. Und findet sich aufgehoben zu Hause/zuhause bei ihr. Und dies  begrenzt und trotzdem zeitüberdauernd  in der Rolle eines musischen Artifex. Samt seinem Mitbewohner, dem Leser.

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1) Hier sei kurz auf zwei Autoren eingegangen, die in ihren Texten eine Melange von Komik und Ernst anrühren.
Robert  Gernhardt  etwa freute sich über seine Aufnahme in die Reclam-Bibliothek. Das sei  „‚die Fahrkarte zur Unsterblichkeit‘“ und er fühle sich in der klassischen Nachbarschaft zwischen Paul Gerhardt und Goethe gut aufgehoben. Unendlich und endlich komisch sein Gedicht "Ach":
Ach , noch in der letzten Stunde werde ich verbindlich sein.
Klopft der Tod an meine Türe, rufe ich geschwind: Herein!
Woran soll es gehn? Ans Sterben?
Hab ich zwar noch nie gemacht,
doch wir werd'n das Kind schon schaukeln
- na, das wäre ja gelacht!

Interessant so eine Sanduhr!
Ja, die halt ich gern mal fest.
Ach – und das ist Ihre Sense?
Und die gibt mir dann den Rest?

Wohin soll ich mich jetzt wenden?
Links? Von Ihnen aus gesehn?
Ach, von mir aus! Bis zur Grube?
Und wie soll es weitergehn?

Ja, die Uhr ist abgelaufen.
Wollen Sie die jetzt zurück?
Gibt's die irgendwo zu kaufen?
Ein so ausgefall'nes Stück
Findet man nicht alle Tage,
womit ich nur sagen will -
ach! Ich soll hier nichts mehr sagen?
Geht in Ordnung! Bin schon
Robert Gernhardt: . Gesammelte Gedichte: 1954 - 2006. Frankfurt. Fischer 2009, S..579-580.
Auf eine vertrackte Art komisch und ganz und gar unverächtlich Udo Lindenberg:
Wenn die Nachtigall verstummt, geht ganz Deutschland schwer vermummt,
Um zu trauern, um zu weinen in schwarzen Tüchern und in Leinen.
Wenn die Nachtigall verstummt, geht das ganze Land vermummt
Und oben über den Dächern schwebt ihr allerletzter Song.

Ich seh' die Flaggen schon überall auf Halbmast hängen.
Die Kanzlerin kniet nieder und fängt an zu flennen.
In der Tagesschau ganz eilig, sprechen sie ihn sofort heilig.
Und die Plattenfirma in solchen Zeiten kriegt derbe Lieferschwierigkeiten.

Wenn die Nachtigall verstummt, geht ganz Deutschland schwer vermummt,
Um zu trauern, um zu weinen in schwarzen Tüchern und in Leinen.
Wenn die Nachtigall verstummt, geht das ganze Land vermummt
Und oben über den Dächern schwebt ihr allerletzter Song.
Die Mischung, scheint mir, funktioniert.
Und ebenso der ungemischt hohe Ton in Ekkeharts Ode.

2)  Sie funktioniert selbst dort, wo ein virtuoses Spiel vorliegt, dessen Akteur sich vielleicht all zu sehr selber feiert. So spielt Bert Brecht mit dem Romanzen- und  Volksliedton und dem Thema "Erinnerung" in einem  berühmten,  ironisch-romantischen Liebesgedicht "Erinnerung an  die Marie A.", aufgenommen in seiner "Hauspostille":
"An jenem Tag im blauen Mond September/ Still  unter einem jungen Pflaumenbaum/ Da hielt ich sie,  die stille bleiche Liebe/ In meinem Arm wie einen holden Traum."
Eine  postmoderne Virtuosität im Umgang mit tradierten Formaten und dennoch (oder auch deswegen) trägt die Textur und kann  ihr Thema nicht demontieren.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (11.07.19)
Lieber Willibald,
meine kleine bescheidene Ode erhält durch deinen gedankentiefen gescheiten Essay eine nie verdiente Patina. Ich danke dir sehr für deine gelungene Betrachtung.
Beste Grüße
Ekkehart

 Willibald meinte dazu am 11.07.19:
Tja, Dank an Dich.
Solche Texte wie Deiner/dieser schließen etwas im Leser auf.

greetse
ww

Antwort geändert am 11.07.2019 um 15:00 Uhr

 AchterZwerg (11.07.19)
Sehr wirkungsvoll überlagertes Bild. :)
Und der Text gefällt mir ebenso. -
Schon die Kürze seiner Herstellung ist erstaunlich.
Und

Gibt es ein Mehr?

Offen, mehr als offen die Antwort. Zunächst einmal: Die Sprache erfasst in diesem Gedicht, was ist: Die kalte Rinde Schopenhauers passt zur Evolution, zum mitleidlosen Todesstrom, in dem sich die Gene bewegen und der die Gene sind. Dies zu benennen heißt wahre Rede. Heißt das, im Benennen liegt Trost? Vielleicht.

Aber doch auch ein wenig billig, das "Argument aus der Bannung des Schrecklichen durch die Magie der benennenden Sprache"?
Und wie belastbar ist das tröstende Argument aus der "Ekloge auf die göttliche Erinnerung"?
Auch ein wenig billig? Oder doch nicht?

kann ich mir förmlich auf der Zunge zergehen lassen.
Ganz toll! Und unglaublich schön.

Mützchenschwenkende Grüße
der8.

 Willibald antwortete darauf am 11.07.19:
Puh! Großen Dank.
ww

 niemand (11.07.19)
Der "unangenehme" Zug der Erinnerung wäre [nebst dem im Gedicht beschriebenen positiven] dass sie verdammt täuschen/vortäuschen kann. In Erinnerung und nur in Erinnerung wird plötzlich manches nicht so Schöne schöner, nicht so Große
gewaltiger, nicht so Gütige gütiger und so weiter und so fort.
Und dann das Böse. Das sich in der Erinnerung als ein Harmloses zu präsentieren weiß und das nicht so Schöne, welches plötzlich doch zum Wunderbaren mutiert. Tja und so hat der Hans mit Glatze plötzlich in Erinnerung eine wallende Mähne und der Fritz ist von Güte umgeben, obwohl er ein egoistisches Schlitzohr war. Und Hanni und Nanni erst. Schönheitsköniginen gleich lustwandeln sie durch die Vergangenheit. Tja, Frau Erinnerung schwingt nicht selten einen der Täuschung/Lüge verschriebenen Pinsel und malt uns gerne wahre Meisterwerke ins Hirn und große
Beben ins Herz. Man muss eben nicht alles glauben, was uns Madame da weiß machen wollen. Mit lieben Grüßen, Irene

 niemand schrieb daraufhin am 11.07.19:
P.S. Pardon, ich sehe grade: Im falschen Thread gepostet.
Gehört unter Ekkis Gedicht.
mit zerknirrschten Grüßen, niemand
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