Kein Ammenmärchen

Dokumentation zum Thema Kinder/ Kindheit

von  eiskimo

Die Brüste der Frauen heißen in Frankreich auch scherzhaft  „die beiden Roberts“, frei nach dem Erfinder des ersten „biberon“, zu deutsch: Säuglingsfläschchen mit „Nucki“. Monsieur Robert hat sie im 19. Jahrhundert auf den Markt gebracht. Diese „biberons“, im Verein mit der Erkenntnis, dass sie  sterilisiert und der Inhalt pasteurisiert sein mussten, sorgte für eine signifikante Abnahme der Säuglingssterblichkeit. Sie sank von 25 Prozent im 18. Jahrhundert auf unter 10 Prozent zu Beginn des 20.
Wo habe ich das alles erfahren? Im Musée des Nourrices, das seit 2016 in Alligny-en-Morvan, 250 Kilometer südöstlich von Paris, zu besuchen ist. Und warum interessiert man  sich dort speziell für die Brüste der Frauen und die Muttermilch? Weil der Morvan eine karge Berglandschaft ist, die von jeher die armen Leute dort zwang, sich anderweitig zu verdingen. Die Männer zogen mit ihren Ochsengespannen zu den Großbauern in der Beauce, die Frauen heuerten in den reichen Pariser Familien an als Ammen.
Bei den Frauen der bourgeoisen Oberschicht wurde es im 19. Jahrhundert schick, sich vornehmlich um das Repräsentieren und die gesellschaftlichen Kontakte zu kümmern – fürs Stillen war da keine Zeit. Und so ließen sie junge Frauen aus den Dörfern des Morvan kommen, die selber gerade ein Baby bekommen hatten, und quartierten diese in ihren noblen Häusern ein – für gutes Geld, versteht sich, denn diese „nourrices“ bekamen nicht nur Kost und Logis, sondern ungefähr vier Mal so viel Lohn wie z.B. eine Näherin. Neben der Still-Arbeit hatten sie auch die Rolle des Kindermädchens, was ihre Abwesenheit von zu Hause oft auf Jahre ausdehnte... Jahre, die sie das eigene Kind nicht sahen.
Gleichzeitig, so zeigt dieses Museum in drastischer Form auf, wurden auch Säuglinge und Kleinkinder aus Paris in großer Zahl in diese arme Bergregion verfrachtet … Findelkinder oder Waisen, die es in großer Zahl in Paris gab – bis zu 5000 in einem Jahr! Denn der französische Staat merkte in Verlaufe der aufkommenden Industrialisierung, wie wertvoll die menschliche Arbeitskraft war. Gegen ein bescheidenes Entgelt gab man diese Kinder in die Obhut jener Morvan-Bauern, die damit ein bisschen heraus kamen aus der Armut, aber nun auch freie Hand hatten: Manche Kinder wurden wie die eigenen behandelt, andere wie Sklaven.
Auch hier zeigt das Museum eine nüchterne Realität. Bis zum 6. Lebensjahr trugen diese Kinder ein Halsband mit ihrer Matrikel-Nummer. Sie waren überdies an ihrer markanten Kleidung zu erkennen. Mit dem Datum ihrer Volljährigkeit, damals 25 Jahre, wurden sie frei.  Immerhin: Starben im 17. Jahrhundert noch 80 Prozent der Findelkinder im ersten Lebensjahr, so sind es zwei Jahrhunderte später nur noch 30.
Keine Ammenmärchen, die einem da erzählt werden. Das kann ich beeindruckt sagen, und daher nur empfehlen, sich dieses Museum bei Gelegenheit anzuschauen.

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Kommentare zu diesem Text

Cora (29)
(12.07.19)
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 Regina (12.07.19)
Heute haben die Franzosen ein öffentliches Kinderbetreuungsprogramm, das funktioniert. Es stammt aus der Zeit, als noch Kriege gegen Deutschland geführt wurden und sollte ursprünglich die Leute dazu motivieren, Kinder zu bekommen, damit man genügend Soldaten hatte, so habe ich gehört.

 AchterZwerg meinte dazu am 12.07.19:
Kann es sein, dass du die beiden Länder verwechselst?
Es war doch der Führer, der nach neu Soldaten schrie, die Gebärwilligen mit dem Mutterkereuz und andern kleinen Überraschungen belohnte ...

 eiskimo antwortete darauf am 12.07.19:
Staatsräson/Nationalismus darf man nicht mit Kinderliebe verwechseln - in keinem der betreffenden Länder....
lG
Eiskimo

 EkkehartMittelberg (12.07.19)
Hallo eiskimo,
dein Text ist ein beeindruckendes Dokument für die damalige Klassengesellschaft.
Servus
Ekki

 eiskimo schrieb daraufhin am 12.07.19:
Danke! In besonderen Fällen, habe ich erfahren, gab es ab und an Milchbrüder, die jene Kluft zwischen den Klassen übersprangen - dank Amme!
Bonsoir,
Eiskimo

 millefiori (14.07.19)
Sehr interessant.
Liebe Grüße
millefiori
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