Die Zeit bleibt Kind

Text

von  unangepasste

Es gab Menschen, in denen die Zeit schlief. Sie blinzelte morgens einmal in die Dunkelheit des Körpers, drehte sich um und schloss die Augen erneut. Der Atem ging so gleichmäßig und leis, dass ihre Anwesenheit aus den Köpfen verschwand.
Mit fünf Jahren hatte Johanna geglaubt, gänzlich von den Misslichkeiten des Lebens befreit zu sein. Damals hatte ihr Bruder eine eiternde Wunde auf dem Handrücken, die täglich versorgt werden musste. Johanna schaute angewidert zu, wie der Verband gewechselt wurde, und sagte sich im Stillen: Mir würde so etwas nicht passieren.
Erst als sie zur Schule ging, erkannte Johanna, dass die Zeit stärker war als sie. Ihre Großmutter ging ins Badezimmer und stellte den Fuß auf einem Hocker ab. Krampfadern überzogen das Bein vom Knie abwärts, schlängelten sich wie Flussbetten entlang und hatten beinahe die Dicke von Johannas kleinem Finger.
Sie hob ihr Kinderbein zu ihrer Großmutter empor und stellte es daneben. "Schau mal“, sagte sie und zeigte auf ihre Adern. Blau hoben sie sich vom Fuß ab. Ob sie einmal Krampfadern würden? Die Großmutter zwängte sich den Stützstrumpf über und antwortete: "Bestimmt."

Später wurde die Zeit ein Strom. Je älter Johanna wurde, desto reißender stürzten die Jahre das Flussbett hinab. Früher, als sie noch ein kleines Mädchen war, bewegte sich die Zeit in feinen Wellen, und an manchen Stellen blickte Johanna bis zum Grund. Heute sah sie nur treibende Blätter und aufgewirbelte Gischt.
Damals bestand ein Tag aus einem riesigen Sack. Sie sammelte und sammelte, und immer blieb noch Platz. Nachts füllte sie den Rest in anderen Welten. Dann trat ein Mann aus der Tür der schlechten Träume, die sich in der Wand am Fußende ihres Bettes befand, bäumte sich auf und sprach mit finsterer Stimme: "Ich bin der Schokoladenfresser!" Leider war Johanna nicht schlagfertig und mutig genug, ihm die Marienkäfer vom letzten Osterfest anzubieten. Ihr kam noch nicht einmal der Gedanke, dass sie selbst gar nicht aus Schokolade bestand und somit außer Gefahr war, gefressen zu werden.
Mit den Jahren wurden die Säcke immer kleiner, und die alten befanden sich schon so weit hinten, dass Johanna nicht mehr zu ihnen durchdrang. Nur manchmal, wenn sie müde war, geriet sie für Sekunden in einen Bereich zwischen Traum und Wachen, in dem Erinnerungen wohnten. Gerüche und Orte vereinten sich in diesem Moment. Ihre Füße befanden sich plötzlich auf Straßen, die sie als Kind entlang gelaufen war, in Ecken, die ihr gänzlich entfallen waren. In solchen Augenblicken merkte sie, dass ihr Leben in ihr ruhte. Sie waren ein müder Nachklang der einstigen Fähigkeit, die Welt mit allen Sinnen zu erleben. Ein Echo der Kindheit und zugleich ein Tor.
Früher schrieb Johannas Mutter jedes Jahr einen langen Brief an die Verwandtschaft. Die Kinder durften diese Seiten nie lesen, wussten aber, dass es um sie ging, was sie wütend machte. Einmal fanden Johannas Bruder und sie Schnipsel im Papierkorb, die unverkennbar von einer Kopie stammten. Jeden einzelnen breiteten sie auf dem Wohnzimmerboden aus. Ihre Mutter störte sie nicht bei ihrer Tätigkeit, denn sie glaubte offenbar nicht an den Erfolg. Bei manchen Teilen sah man sofort, dass sie zusammenpassten. Dann gab es diese weißen Randbereiche, auf denen sich nur einzelne Striche befanden, die nahezu jeden Buchstaben fortführen konnten. Immer wieder probierten die Kinder aus, die Teile zusammenzusetzen. Am Ende schafften sie es. Es entstand ein Text.
Sekunden im Halbschlaf waren manchmal solche Puzzleteile. Mit viel Geduld ließ sich von ihnen einmal der Text der Kindheit ablesen. Das nächste Mal wollte Johanna ihn luftdicht in Flaschen verstauen und in ein Boot tragen, ihn vor dem reißenden Fluss schützen.

Bei Paul war die Zeit kein Fluss. Schon früh rannte sie in seinem Körper auf und ab. Ein unbändiges Kind, das gegen die Zellen trommelte; das noch nicht gelernt hatte, Spuren zu verwischen und Scherben zu beseitigen. Manchmal erschrak es einen Augenblick, das Kind; vielleicht, weil ein Glas auf den Kacheln zersprang. Doch dann rannte es weiter umher, bis der nächste Gegenstand zu Bruch ging.
Manchmal sah Johanna vor sich, wir sie mit Paul durch den Sand lief. Die Sandalen baumelten in seiner linken Hand. Johanna trieb es immer weiter, bis zum hintersten Zipfel der Insel, an dem das Vogelschutzgebiet begann. Auf einmal war der Weg überflutet. Wellen umspülten ihre Fahrräder, die sie oben abgestellt hatten. Paul stieg ins knietiefe Wasser. Hinterher lachten sie, froh, dass sie sich rechtzeitig auf den Rückweg begeben hatten.
Wenn Paul auf dem Stuhl saß, wollte Johanna sagen: „Steh auf!“ Doch niemand konnte die Zeit in seinem Innern bremsen. Wie gern hätte Johanna ihn wie ein Fahrrad aus dem Meer gezogen.

Die Pflegerin schob ein großes Gestell heran. Sie musste aufpassen, dass es nicht anstieß. Dann ließ sie es herunter, gerade so tief, dass sie Paul daran befestigen konnte.
Als sie es wieder nach oben kurbelte, schwebte er in einer Schaukel. Zwischen den Armlehnen des Rollstuhls ließ sie ihn herunter, so passgenau, dass er in Sitzposition landete. Und immer konnte Johanna nur zuschauen, wie die Zeit jede Regung von Paul nahm.

Die Fähigkeit der Hingabe war Johanna abhandengekommen. Sie schlüpfe in einen Raum, in den keine Berührungen reichten. Müdigkeit legte sich in Johannas Sätze, ließ sie schwer werden und langsamer klingen. Sie versuchte, ihre Unsicherheit durch Verstand zu tarnen, zerschnitt ihr Leben in kleine Stücke und setzte es schlüssig zusammen, legte es auf einen Teller und sagte: Sieht es nicht schön aus? Paul verzog das Gesicht.
Johanna hatte gedacht, sie würden es schaffen, nichts zu erwarten. Nicht mehr zu spüren, wie sie dahinter verschwanden. Aber sie hatte sich geirrt. „Ich will dich noch einmal von vorne verlieren“, dachte sie und schaute aus dem Fenster. Sie saß an Pauls Bett und schaute zu, wie er immer weniger wurde. Wie seine Hände, seine Stimme ihm entglitten. Sie hatte Angst vor seinem Verschwinden, denn es lag außerhalb ihrer Ordnung. Außerhalb der Regeln ihrer Welt. Es ließ sich nicht erklären und beherrschen. Geradezu absurd in einer aufgeklärten Zeit. Lag hier nicht das größte Versagen, wenn nicht sogar ein Verspotten all ihrer Errungenschaften?
Seit Pauls Körper ihm entglitt, war Johanna aus dem Takt geraten. Bei jedem Versuch, sich zu halten, fehlte das Gerüst, die Grundlage. Also fiel sie in sich hinein, bis sie sich nicht mehr auffinden konnte, so tief. In der Leere tauchte ihr altes Leben wieder auf, als Nordlicht. Wenn sie danach griff, stürzte sie weiter, denn die Farben hatten keine Substanz.
Sie konnte Paul nur zusehen, wie sich etwas um ihn auflöste; zu nichts weiter war sie jetzt imstande, als in seinen Leerstellen zu versinken.
Ein Teil von Paul hatte sich in Johanna verankert. Wo er sich lockerte, riss er etwas auf. Ihre Wurzeln waren wund geworden an der Luft. Wie lange war es her, dass sie die Grenzen zwischen sich verloren hatten? Dass sie sich überschnitten und ineinander hineinrankten? Auch auf Johannas Seite starb etwas.
Manchmal hielten sie sich am Immergleichen, denn es täuschte sie über das Ende hinweg. Ihr Denken beruhigte sich in dem Schein von Beständigkeit. Sie ahmten die Tage nach, als könnten sie so die Zeit anhalten. „Glaubst du nicht auch, dass sie hinter Gewohnheit verschwindet? Dass sie ganz still wird, wenn wir sie in einen Rahmen pressen?“, fragte Johanna, doch sie sprach es nicht aus.
Und sie dachte weiter: „Kennst du die Angst vor der Zeit? Eine Wohnung, ein Möbelstück aufzugeben, weil dann auch ein Stück von dir verschwindet; ein Abschnitt beendet ist, der aus dir herausfällt und eine Lücke hinterlässt? Du haftest noch daran, zu einem kleinen Teil, und fühlst, wie sich ein Loch in dir bildet, ohne diesen Gegenstand. Die Zeit zerstört dich zunächst nur langsam, doch du wirst immer kleiner, bevor du etwas Neues werden kannst. Nein, selbst das ist nicht von Bestand. Bald wird dir die Fähigkeit zu werden abhandenkommen. Bleibst du dann ohne dich zurück? Weißt du, was ‚ohne dich‘ bedeutet?“
Manchmal nahm Johanna ein kleines Stück Leben und warf es in die Leerstellen. Doch es verlor den Glanz, wenn es so einsam und zerschnitten an der falschen Stelle lag.

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Kommentare zu diesem Text


 Regina (20.07.19)
Tiefsinnig beobachtende Betrachtung des Phänomens Zeit.

 unangepasste meinte dazu am 20.07.19:
Vielen Dank!

 AZU20 antwortete darauf am 20.07.19:
Das sehe ich auch so. LG

 Teichhüpfer (20.07.19)
Mit blauen Adern hat das nix zu tun, Feindschaft, Lügen und Machtbesessenheit..

 IngeWrobel (21.07.19)
Ein wunderbarer Text!
Durchgängig großartig ... mein Kompliment!
Liebe Grüße
Inge

 unangepasste schrieb daraufhin am 21.07.19:
Oh, das freut mich, vielen Dank!

 AvaLiam (10.08.19)
Hallöchen

Ich finde dieses kleine Werk großartig und habe es schon einige Male gelesen stets bedauernd, dass es nicht weitergeht.
Man möchte in dem Schreibstil hineinkriechen und sich all die Worte nehmen lassen die man selbst nicht schreiben kann.
Die Dosis an kunstvoll geschmiedeten Worten und Formulierungen ist perfekt, nicht übertrieben und aufgesetzt wie in vielen der Texte, die man hier so liest, als ob es ein Wettbewerb um Klugheit, Kenntnis von Fremdwörtern und ihre Verwendung und literarischer Sachkenntnis ist wo der Inhalt nur zweitrangig ist.
Es macht so unglaublich viel Leselaune, ihn zu lesen, Dich zu lesen.
Und auch hier kann ich mit deinen Worten nachspüren was du beschreibst, weiß genau was gemeint ist, fühlt es sich am Ende beinahe an wie meine Geschichte, meine Zeit,
Liegt vielleicht auch ein klein wenig daran, dass ich weiß was es bedeutet: >"Bleibst du dann ohne dich zurück?"<
Wenn mich heute jemand fragt wie ich mich in dieser Zeit gefühlt habe - so kann ich nun auf diese, deine Geschichte verweisen weil sie alles beantwortet während sie auch fühlen lässt.

Danke für dieses schönen Text

lG - Ava

 unangepasste äußerte darauf am 10.08.19:
Vielen Dank, das freut mich! Dieser Text bedeutet mir viel.
In der Tat soll es irgendwann weitergehen mit dieser Geschichte - aber ich arbeite noch daran und weiß selbst noch nicht, ob mein Konzept funktioniert und wo ich damit einmal lande.
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