Einsamer Lauscher

Erzählung zum Thema Menschenliebe/ Menschenhass

von  eiskimo

Er interessiert sich für Menschen. Mehr noch: Er ist geradezu fasziniert von ihnen. Von ihrem Miteinander. Wie sie sich austauschen. Auf einander reagieren.
Er selber redet kaum. Seit seinem Unfall ist er ausgesprochen scheu, fast kontaktunfähig. Darum mischt er sich niemals ein, bleibt immer außenstehend. Trotzdem muss er die Nähe seiner Mitmenschen suchen, denn er will hören, was sie sagen, wie sie es sagen. Hören und ein bisschen dazu gehören. Er lauscht also aus sicherem Abstand. Und er sucht die Situationen und Örtlichkeiten, wo die Leute in Dialog treten.
Darum fährt er viel Straßenbahn oder Bus. Er mischt sich in die Schlange der Wartenden vor einem Kino, am Schwimmbad oder vor dem Fußball-Stadion. Da hat er die Nähe und er kann trotzdem anonym bleiben. Diskreter Lauscher, der aber total eintaucht in die Schilderungen seiner „Spender“. Es ist für ihn wie Kino, wie ein Rollenspiel. Dabei reichen ihm Andeutungen, Bruchstücke von Sätzen, die Körpersprache – soweit er sie verfolgen kann. Und dann saugt er sich förmlich hinein in diese durch Worte aufgebaute Szenerie, lebt die so dahin gesagten Entwürfe mit. Und er ist ständig auf der Jagd nach mitteilsamen Akteuren.
Raucher sind ihm ein Genuss, weil sie Rituale haben, weil sie feste Treffpunkte aufsuchen, sich aber stets neu der Situation hingeben, mit neuen Geschichten. Mütter mit Kindern sprechen ihn weniger an, sie wiederholen sich. Ähnlich die Fußball-Fans. Die klingen für ihn sehr laut und dramatisch, haben aber kaum menschliche Feinheiten. Lauter sind nur noch Schülergruppen, wo alle sich geradezu überschreien müssen – nein, kein Hör-Genuss.
Was ihn zunehmend enttäuscht, das sind die halbierten Dialoge, mit denen er jetzt immer häufiger Vorlieb nehmen muss. So wird er in ein Gespräch hinein gezogen, aber nur einer der Sprecher ist vor Ort – mit dem Handy am Ohr. Zwar wird von dem da meist sehr laut und für alle nachvollziehbar diskutiert und erzählt, aber nicht immer springt für unseren Lauscher noch  der Funken über. Denn die fehlenden Repliken lassen sich nicht immer erschließen. Klar, Mimik und Gestik bergen weiterhin spannende Botschaften, aber der entstehende  „Film“ hat doch einige Risse.
So heute Morgen wieder, als ein junger Mann in der S-Bahn mit seinem Smartphone fast wie ein Seelsorger agierte, wohl im Gespräch mit einer ihm nahe stehenden Frau. Denn es ging um ein Baby, „das ganz sicher noch zu deinem Glück fehlt. Und „es ist jetzt der richtige Zeitpunkt“. „Du bist schließlich über 35!“
War der Mann vor ihm der Vater? Wollte die Frau das Kind nicht?  Erwog sie gar eine Abtreibung?
Ein anderer Fahrgast schob sich einfach in das Gespräch und überdeckte alles – Pech, die entscheidenden Worte verpasste er prompt. Er hörte nur noch seinen Mann eindringlich Glück wünschen. Und „Du wirst die richtige Entscheidung treffen, ganz sicher!“  Dann war er nur noch Zeuge, wie dieser so mitfühlende Mensch sein Smartphone abschaltete, wie er  die Augen schloss und dann fast traurig den Kopf schüttelte.
Als der Mann kurz danach ein Laptop auspackte und anfing, die Tasten zu bearbeiten, wusste unser Lauscher, dass er hiermit völlig  aus dem Spiel war.
Schade. Er war so dicht dran gewesen an einem Miteinander..
Im Hauptbahnhof stieg er aus der S-Bahn aus. Schon suchte er wieder Menschen, die redeten. Es gab nicht viele.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Buchstabenkrieger (03.08.19)
Hallo eiskimo,

Gefällt mir gut.
Die Idee, sich in Menschenmassen zu bewegen zu lauschen um das Gefühl zu haben, dazuzugehören, ist klasse.
Ich könnte mir das - ausgebaut - auch als eine sehr gute klassische Kurzgeschichte vorstellen.

LG, Buchstabenkrieger

 eiskimo meinte dazu am 03.08.19:
Hallo, Buchstabenkrieger
Danke für die nette Rückmeldung. Ja, mir schwebte das genauso vor. Das ist ja wie Zapping beim Fernsehen - man kriegt stückweise "Leben" serviert. Da man nur unbemerkter Beobachter bleibt, beeinflusst man die Szenerie ja nicht.
Ich setze mich an das Thema noch einmal dran.
lG
Eiskimo

 Buchstabenkrieger antwortete darauf am 03.08.19:
Hallo eiskimo,

wenn du den Text überarbeitet hat, schaue ich sehr gerne noch mal rein.

Ach so: "Kontakt-unfähig."
Müsste eigentlich kontaktunfähig heißen. Oder hast du das extra so geschrieben?

LG, Buchstabenkrieger

 Buchstabenkrieger schrieb daraufhin am 08.08.19:
Hallo eiskimo,

ich noch mal ...
Ich hatte ja gesagt, dass die Idee mir klasse gefällt, das sich unter die Leute mischen usw.

Wollte dir nur sagen, dass mich dein Text zu meiner Geschichte "Schein" inspiriert hat, wo ich das in Teilen aufgegriffen habe.

https://www.keinverlag.de/430775.text

Danke für die Inspiration

LG, Buchstabenkrieger

Antwort geändert am 08.08.2019 um 08:00 Uhr
Stelzie (55)
(03.08.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 eiskimo äußerte darauf am 03.08.19:
Sehr schön - so was macht dann Spaß! Wenn Du raus gehst und Leute siehst, kannst Du gleich weiter lauschen....
Danke für Dein Feedback!
LG
Eiskimo

 Dieter_Rotmund (03.08.19)
Ein Adjektiv-Kompositum wird durch einen falschen Bindestrich nicht plötzlich zum Substantiv! Doppelfehler, würde man beim Tennis sagen.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram