Wie mich mein Vater vor einer noch größeren Dummheit bewahrte

Kurzgeschichte zum Thema Jugend

von  Buchstabenkrieger

Als ich allein in der Küche war, fischte ich die Tube aus dem Abfalleimer. Ich verstaute sie in der Hosentasche und verzog mich in mein Zimmer.
Mehrere Wochen hatte ich warten müssen, bis ich endlich mein neuestes Stück ergattern konnte. Den Text auf dem Aufkleber der winzig kleinen Tube, der extrascharfen Chilipaste, kannte ich in- und auswendig. Inhaltsstoffe: Habanero, Bhut Jolokia, Knoblauch, Essig. Totenkopfsymbol für den höchsten Schärfegrad 10+++. So, wie mein Vater sein Gesicht verzog, war ihm die Paste wohl zu scharf. Und dabei hatte er bloß eine Messerspitze seinem großen Topf Chili beigemischt.
Unter dem Bett stapelten sich die alten Keksdosen. In ihnen bewahrte ich die zerdrückten Tuben. Andere in meiner Klasse sammelten Paninis oder Spielzeugautos. Meine Sammelstücke besaßen alle eine eigene Geschichte, die Erinnerungen in mir weckten. Ich legte also die Totenkopfpaste hinzu und hoffte, dass sie besser wirken würde als alles Bisherige.

Abends gingen meine Eltern aus, um erst spät heimzukehren. Ich stellte eine Packung Kleenex in Griffweite und holte die Blechdosen hervor. Wählte die Tuben aus und legte sie nebeneinander in die richtige Reihenfolge. Die Totenkopfpaste als Letztes.
Dann stellte ich mich vor den Kleiderschrankspiegel, zog das T-Shirt aus und kreiste mit meinen Fingern sanft über Stirn und Schläfen, Augen und Wangen. Ich drückte ein wenig Majo auf den linken und Remoulade auf den rechten Zeigefinger. Diese beiden Tuben hatten wir aus Holland mitgebracht. Ich erinnere mich noch gerne an den Nordseeurlaub zurück, an Frikandeln und Pommes Spezial, das es bei uns zuhause nicht gab.
Wieder baute ich mich vor dem Spiegel auf und malte mit den Fingern zwei Striche auf das Glas, genau dorthin, wo sich meine Augenbrauen im Spiegel zeigten. Ich durfte mich nicht bewegen, damit sich die Malerei nicht verschob, alles synchron blieb. Den Rest leckte ich von den Fingern ab. Dann strich ich weiße und rote Zahnpasta auf die Stellen im Spiegelbild, die meine Zähne zeigten. Meine Mutter bestand darauf, dass ich unterschiedliche ph-Werte verwendete.
Paprikamark – dessen Geschichte darin bestand, dass Mutter ihn versehentlich anstelle von Tomatenmark gekauft hatte – strich ich dorthin, wo sich die Lippen spiegelten, Vaters Rasiercreme mit Kokosnuss- und Jojobaöl auf meinen nicht vorhandenen Bartwuchs. Meine Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 50, – die Sorte, die ich schon von Babytagen an benutzen musste, obwohl ich längst keine Babyhaut mehr hatte –, über Hals, Schultern und Arme. Das teuerste Stück, Mutters Handcreme, über die Hände. Ein Geschenk von Vater zum Hochzeitstag.
Bis dahin hatte ich auf meine Art das nachgestellt, was der Junge in der Kurzgeschichte „Der Spiegel“ macht, die wir im Deutschunterricht durchgenommen hatten. Nur, dass ich nicht Schminke verwendete und anschließend auch nicht den Spiegel zerschlagen würde.
Meine Spielart war eine andere. Endlich hatte ich eine sinnvolle Verwendung für meine Sammelstücke gefunden. Schule sei Dank!
Ich entkleidete mich vollständig. Die Venencreme gegen Durchblutungsstörungen strich ich über die im Spiegel gezeigten Beine und Füße. Sie hatte meiner verstorbenen Oma gehört. Gott habe sie und ihre Krampfadern selig.
Ich grinste meinem Spiegelbild zu. Erneut baute ich mich auf und wiederholte die Malerei. Nur, dass ich jetzt die Tubeninhalte auf meinen Körper schmierte, in derselben Reihenfolge, in derselben Stärke und bildgleich an dieselben Stellen wie im Spiegel. Mir wurde wärmer, ich spürte, wie sich das Nackenhaar aufrichtete. Das Spiegelbild und mein Körper waren identisch.
Das Finale.
Ich verteilte ein wenig von der öligen, körnigen Totenkopfpaste in den Händen. Langsam massierte ich meine Hoden, dann den Penisschaft – und erschrak, als plötzlich die Wohnungstür aufgestoßen wurde und gegen die Wand knallte. Näherkommende Stöckelschuhschritte auf den Fliesen. „Thomas!“, schrie Mutter über den Flur. „Dein Vater ist im Treppenhaus gestürzt! Schnell! Schnell! Komm!“


Anmerkung von Buchstabenkrieger:

Inspiration war die Kurzgeschichte „Im Spiegel“ (1984) von Magret Steenfatt, die ich beim Aufräumen meines Bücherregals im "Deutschbuch für die Oberstufe; Texte, Themen und Strukturen" (wieder)entdeckt habe.

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (09.08.19)
Schön flüssig erzählt mit einer tollen Pointe!
Mir gefällts.

Lotta

 Buchstabenkrieger meinte dazu am 09.08.19:
Hallo Lotta,

danke für deine Zeit, deinen Kommentar und die Empfehlung.

Freut mich sehr, dass es dir gefallen hat.

Manchmal ist es sehr fruchtbar, in alten Deutschbüchern zu stöbern. Sonst hätte es diese kleine Geschichte nicht gegeben.
(Wo man nicht überall nach Inspiration sucht ... Hätte ich mir als Schüler damals nie erträumt.)

LG, Buchstabenkrieger

 princess (09.08.19)
Niemals werde ich deinem lyrischen Vater verzeihen, dass er das getan hat. Ausgerechnet an der Stelle, als es so richtig interessant wurde. Ausgerechnet da!

Erboste Grüße
p.

 Buchstabenkrieger antwortete darauf am 10.08.19:
Hallo princess,

danke für deine Zeit und die erbosten Grüße.

Dann habe ich ja alles richtig gemacht, wenn ich dir das "böse Ende" erspart habe

Habe mich sehr über deinen Kommentar gefreut.

LG, Buchstabenkrieger
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