Doppelter Verlust

Erzählung zum Thema Verlust

von  EkkehartMittelberg

Meine frühesten Kindheitserinnerungen sind mit Verlust verbunden.
Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern mir ein holzgeschnitztes Pferdchen schenkten, das ich hinter mir herziehen konnte, weil es auf Räder montiert war. Ich fühlte, dass mich meine Spielkameraden darum beneideten, denn im Kriegsjahr 1941 war Spielzeug teuer.

Ich befand mich mit dem Pferdchen auf dem Bürgersteig vor unserer Wohnung, die in einer höheren Etage lag, als ich dringend zur Toilette musste. Ich wusste, das mich das Pferdchen beim Treppenlaufen nach oben behindern würde, ließ es also draußen, nicht ohne einem meiner Kameraden das Versprechen abgenommen zu haben, auf das Pferdchen achtzugeben. Als ich zurückkam, war der „Spezi“ mit dem Pferdchen verschwunden. Ich habe beide nie wieder gesehen.

Etwas später - es muss noch 1941 gewesen sein - traf mich ein zweiter Verlust, der mich tiefer schmerzte, weil es um einen Menschen ging. Wir hatten damals ein Hausmädchen, das mit einem Juden namens Engel verlobt war. Engel durfte Irmgard mit Einwilligung meiner Eltern in unserer Wohnung besuchen. Ich weiß, dass Irmgard ihren Engel sehr geliebt hat, aber auch ich hatte ihn in mein kleines Herz geschlossen, denn Engel brachte mir immer Schokolade oder Lakritz mit, die damals zu seltenen Geschenken gehörten.
Eines Tages war Engel nicht mehr da und ich vermisste ihn sehr. Ich weiß nicht mehr, wie mir meine Mutter und Irmgard sein Verschwinden erklärten. Doch meine Traurigkeit über sein Fernbleiben wirkte viel länger nach als die über das gestohlene Pferdchen.

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Kommentare zu diesem Text


 FrankReich (23.08.19)
Hallo Ekki,

allein die Assoziation Holzpferd & Engel = Pegasus macht Deinen Text für mich schon lesenswert, und wer ihn reflektiert, dürfte sich spätestens dann bewusst gemacht haben, dass er die Perspektive eines Kindes beschreibt.

Ciao, Frank

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.08.19:
Merci, Frank, von Pegasus bin ich weit entfernt, aber ich habe versucht, aus der Perspektive eines Kindes zu schreiben.
Servus
Ekki
Kreuzberch† (66)
(23.08.19)
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 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 23.08.19:
Grazie, Stefan, das stimmt. Es gibt Verluste, die wir lebenslang nicht vergessen. Deshalb drängt es uns auch, darüber zu schreiben.
Herzlichst
Ekki

 TassoTuwas (23.08.19)
Hallo Ekki,
Verluste begleiten uns durch das Leben, manche verblassen im Laufe der Zeit, andere sind unvergesslich.
Du beschreibst diese "schönen Traurigkeiten" und machst damit nachdenklich!
Herzliche Grüße
TT

 EkkehartMittelberg schrieb daraufhin am 23.08.19:
Gracias, Tasso. Alle Verluste vernarben irgendwann. Aber es gibt Narben, die verschwinden und andere, die immer bleiben.
Herzliche Grüße
Ekki

 LottaManguetti (23.08.19)
Dein Text, Ekki, vermittelt ein Lebensgefühl, das wir späteren Kinder nicht kennenlernen mussten. Dennoch tragen wir in uns ein vages Gefühl aus der Zeit kurz danach. Ich persönlich habe dieses konserviert, da ich schon als Kind extreme Sensoren für meine Umwelt besaß. Und dieses hast du heute mit deinem Text geweckt.
Leider hat meine Großmutter nur selten über diese Zeit gesprochen. Aber ich hatte lange Ohren, wenn sie mit ihren Kundinnen in der Schneiderstube plauderte. Vergessen fiel mir schon damals schwer. 😊
Deine Geschichte berührt mich daher sehr, wenngleich ich nur schwer drüber reden und erst recht nicht schreiben kann.

Lotta

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 23.08.19:
Vielen Dank, Lotta,
so, wie ich dich als Dichterin kennen gelernt habe, kann ich mir gut vorstellen, dass du extreme Sensoren für deine Umwelt besitzt. Mögen sie uns noch lange erhalten bleiben.
Ich bin übrigens ebenfalls eng mit der Schneiderei verbunden. Meine Urgroßmutter hatte eine Patentschneiderei, damals etwas Besonderes in Deutschland und meine Schwiegermutter war ebenfalls Schneiderin. Ich schätze diesen kreativen Beruf sehr.
Beste Grüße
Ekki
Sätzer (77)
(23.08.19)
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 EkkehartMittelberg ergänzte dazu am 23.08.19:
Merci, Uwe, ja, der Zweite Weltkrieg hat diese Erzählung entscheidend geprägt.
LG
Ekki

 Artname (23.08.19)
Ich beschäftige mich gerade wiedermal mit Dinggedichten. Und du lieferst eine ausgezeichnete, spannende Vorlage. Hier das verschollene Pferdchen, da der verschollene Jude... Spannend in diesem Sinne auch die Diskussion.

Ich kannte in meiner Kindheit keinen Juden. Also konnte mir auch keiner "gestohlen" werden. Im Gegensatz zu meinem Fahrrad. An das ich mich kaum noch erinnere. Es war grün und war ein Damenfahrrad. Ich hatte das Gefühl, es wurde meiner Mutter gestohlen. Trotzdem sie es mir wohl geschenkt hatte. Seltsam.

Besser erinnere ich mich an Gretel. Sie war wunderschön und zeigte sich plötzlich mit einem Iraner. Der war ebenfalls schön. Aber wegen ihm verwandelte sich die schöne Gretel in den Gesprächen der Nachbarn in eine Hure. Sie verschwand ebenfalls. Ich seh noch das lange, blonde Haar und ihre kurvenreiche Figur. Sogar ihr helles Lachen klingt mir, wenn ich mich konzentriere, noch in den Ohren.

Danke und
Lg

Kommentar geändert am 23.08.2019 um 13:27 Uhr

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.08.19:
Vielen Dank für deinen interessanten Kommentar, Artname.
LG
Ekki
Sin (55)
(23.08.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.08.19:
Merci, Sin, das kenne ich. Verluste, die auf mangelnde Wertschätzung zurückgehen, wirken besonders lange nach.
LG
Ekki
wa Bash (47)
(23.08.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.08.19:
Danke, wa Bash, es handelt sich nicht um einen literarischen Kunstgriff. Ich kann mich tatsächlich bis an mein drittes Lebensjahr zurück erinnern.

 eiskimo (23.08.19)
Schlimmer als etwas zu verlieren, das war für mich, etwas kaputt zu machen. Alles war knapp, alles war teuer.
Mein Vater versuchte als Fotograf, unsere Familie über die Runden zu bringen. Da habe ich einmal eins seiner Objektive vom Tisch gestoßen. Ich habe das als existentielle Bedrohung empfunden, es hat mir den Schlaf geraubt...
Dein Text hat mir das sofort wieder lebendig gemacht.
LG
Eiskimo

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 23.08.19:
Vielen Dank, Eiskimo, das kann ich sehr gut nachvollziehen.
LG
Ekki

 Didi.Costaire (23.08.19)
Hallo Ekki,

das klingt ja extrem bedrückend. Schleppst du die Ungewissheit bis heute mit dir herum, oder weißt du inzwischen mehr?

Liebe Grüße, Dirk

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.19:
Merci, Dirk, ich konnte nichts in Erfahrung bringen. Engel bleibt verschollen.
Liebe Grüße
Ekki

 AchterZwerg (24.08.19)
Lieber Ekki,
zunächst einmal meinen Beifall für die kunstvolle Komposition des Textes. Ich lese einmal von einem materiell gebundenen Leid des Kindes und zum anderen vom Verlust eines Menschens.
Das geliebte Holzpferdchen und der freudenspendende Herr Engel kommen beide durch "Diebstahl" abhanden und vereinen sich dadurch auf der Herzebene.
Gefühlsmäßig fühle ich mich an das wunderbare Buch "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" (Judith Kerr) erinnert.

Kurzum: unaufdringlich, sehr anrührend und gut gemacht.

Herzliche Grüße
Pico

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.19:
Grazie, especiale, Pico, das Buch von Judith Kerr hat mich auch sehr berührt.
Herzliche Grüße
Ekki
Agneta (62)
(24.08.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 24.08.19:
Danke Monika, auch wenn man diese Erfahrung schon öfter gemacht hat, wird sie nicht leichter.
LG
Ekki
Cora (29)
(26.08.19)
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.08.19:
hallo Cora, sein Vorname ist mir nicht in Erinnerung, aber ich glaube, dass Irmgard ihn Engel nannte, weil er ihr Engel war und für mich war er auch einer.
Cora (29) meinte dazu am 26.08.19:
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 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.08.19:
Danke für deine Anteilnahme an diesem traurigen Schicksal, Cora.

 GastIltis (26.08.19)
Hallo Ekki, eine, oder besser zwei sehr schöne, miteinander verwobene, Geschichten, die die Erinnerung wohl ein Leben lang aufbewahrt. Wenn wir sie nicht hätten, was wären wir heute? Traumtänzer oder -deuter? Wer weiß. Mir ist z.B. der Tod meiner Großmutter mütterlicherseits in der Erinnerung haften geblieben. Auf ganz seltsame Art. Von ihr selbst habe ich nichts behalten. Sie wurde im Großelternhaus aufgebahrt und mir hat man verweigert, sie noch einmal sehen zu dürfen. Das hat sich bis heute eingeprägt. Und ihre offenbare Freude bei meiner Geburt: „n Jung in Hus, n Jung in Hus!“ von dem sie sich gar nicht beruhigen konnte (meine Mutter war ein Einzelkind). Davon habe ich natürlich erst viel später etwas erfahren, während ich den Schmerz bei der verweigerten Betrachtung bei der Aufbahrung, da könnte ich auch drei gewesen sein, noch nachvollziehen kann.
Es ist erfreulich, dass manche Erinnerungen noch so bildhaft vorhanden sind und dass es Leute wie dich gibt, die sie so lebensnah schildern können, dass man meinte, dabei gewesen zu sein.
Herzlich grüßt dich wie immer Gil.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 26.08.19:
Lieber Gil,
vielen Dank dafür, dass du meiner Erzählung deine nicht minder interessante Jugenderinnerung so lebhaft hinzugefügt hast.
Herzliche Grüße
Ekki

 Dieter_Rotmund (16.09.19)
" ... denn in dem Kriegsjahre 1941"

Neee, Ekkehard, das kannst Du besser, z.B.

"denn im Kriegsjahr 1941"

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 16.09.19:
Hallo Dieter, bevor dich die Fliege an der Wand stört, habe ich es verändert.
Servus
Ekki

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 16.09.19:
Eher der Elefant in der Abstellkammer.

Bitte, gern geschehen.

 harzgebirgler (21.03.21)
nicht viel verlorenes wird derartig vermisst
daß einer es sein lebtag nicht vergisst
und gar still eine träne noch vergiesst.

toll & nachvollziehbar geschrieben, lieber ekki!

lg
henning

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 21.03.21:
Merci, Henning, das hast du sehr einfühlsam gesagt.

LG
Ekki
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