Alle meine Autos ...oder vom unaufhaltsamen Fortschritt

Bericht zum Thema Fortschritt

von  eiskimo

Ziemlich genau fünfzig Jahre lang bin ich jetzt aktiver Käufer von Autos, und ziemlich genau alle zehn Jahre habe ich mir tatsächlich ein neues gegönnt. Es war jedes Mal ein Quantensprung, ein gewaltiges Mehr an Bequemlichkeit, was ich da bekam. Weil die Auto-Industrie mir Gutes tun wollte? Weil die Ingenieure da einfach immer besser wurden? Weil es um Absatz geht?
In meinem ersten Auto musste ich noch das Seitenfenster per Hand entriegeln, den Grad der Öffnung bestimmte ich mit dem ausgefahrenen Ellbogen – sah voll cool aus, wenn ich da mit meinem 2 CV vorfuhr, lässig das Klapp-Fenster ganz hoch schwappen ließ, so dass es sogar fest einrastete. Statt Ventilator hatte ich in der „Ente“ einen Drehgriff, mit dem ich eine unterhalb  der Frontscheibe angebrachte Klappe „für Fischluft“ hochkurbeln konnte.
Bei meinem zweiten Auto, einem Datsun, war für Frischluft tatsächlich ein Ventilator vorhanden, elektrisch dosierbar. Und die Seitenscheibe ließ sich mit einer Handkurbel hoch und runter bewegen. Verchromter Japan-Barock. Voll Edel.
Das dritte Auto, ein Nissan, brachte mich dann schon in den Genuss von elektrischen Fensterhebern, allerdings nur für die Fahrer- und Beifahrertüre. Und ich konnte mit dem Gebläse auch seitlich so viel Wind machen, dass diese Seitenfenster nicht beschlugen.
Im vierten Wagen, den ich erwarb, ein Peugeot, musste ich zwar auch weiterhin die hinteren Seitenfenster per Kurbel hoch und runterfahren. (Plastik!) Aber was man mir als neue Beglückung eingebaut hatte, das war eine Klimaanlage! Die gab es zusätzlich zu dem elektrisch dosierbaren Gebläse und der Rundum-Belüftung.
Jetzt, mit meinem Auto No. 5, einem Renault, habe ich gerade eine weitere Etappe in der Verwöhn-Skala vollzogen. Auch die hinteren Seitenscheiben sind elektrisch bedienbar – sie sind sogar getönt! - und mit der  Klima-Anlage jüngsten Datums, da kann ich sogar die gewünschte Innenraum-Temperatur mit einem blinkenden Drehschalter und LED-Tatstatur vorprogrammieren – ich blicke noch nicht ganz durch, weil die Bedienungsanleitung doch recht umfangreich ausfiel, aber bei Hitze kann ich ja schon einmal die Seitenfenster öffnen – elektrisch, und natürlich alle vier!
Was für einen Fortschritt konnte ich da in meinen 50 Autofahrer-Jahren hautnah miterleben! Übrigens ungefragt. Nie hat mich jemand für eine Kundenbefragung besucht und sich nach meiner Wertschätzung für die Bedienerfreundlichkeit von Seitenfenster oder Ventilator erkundigt. Die beschriebenen Fortschritte erfolgten ohne mein Zutun.  Schlimmer noch: Ich wollte die gar nicht. Bei meinem letzten Kauf fragte ich eigens nach einem Fahrzeug in „Basisversion“, „ohne Schnick-Schnack“, vielleicht mit dem „technischen Standard der 1980er Jahre“ - der Sales-Promotion-Assistent in diesem Auto-Palast guckte mich an, als sei ich ein Neanderthaler.
Mein Argument, dass mir dann auch mitten in der Pampa vom Dorf-Garagisten noch geholfen werden könnte, ließ der smarte Kerl nicht gelten. Ich hätte doch Mobilitäts-Garantie. Weltweit. Und mit dem eingebaute GPS-Sender würden die mich auch überall finden.
Auch wenn ich das gar nicht wollte? fragte ich noch. Aber er verstand die Frage gar nicht.


Anmerkung von eiskimo:

Der Bericht "Alle meine Fahrräder" folgt in Kürze, wird aber deutlich länger ausfallen

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (05.09.19)
Hallo Eiskimo,
schön, dass du den Fortschritt an dem selben Beispiel, der Belüftung, darstellst und ihn am Ende relativierst.
Servus
Ekki

 eiskimo meinte dazu am 05.09.19:
Pars pro toto - sonst wären wir bei dem Thema ja jetzt noch nicht fertig. Und Fortschritt ist ja sehr relativ. Einiges finde ich absolut grandios (ein Navi, z.B.), anderes ist wirklich Schnick-Schnack (die Halterung für den Cola-Becher und die Chips-Tüte..)
Wir halten die Spur!
Eiskimo

 TassoTuwas (05.09.19)
Mein erstes Auto war eines mit so ziemlich viel nichts!
Es gab keine Kopfstützen, keine Airbags, nicht einmal Gurte!
In Ermangelung von Bremskraftverstärker, Servolenkung, elektrischen Fensterhebern, wuchsen die Muckis.
Im Winter fror das Handbremskabel fest und die Heizung bemerkte man erst nach 15 Kilometern und im Sommer mussten die Ausstellfenster für Wind sorgen.
Mein weißer Traum schluckte 12 Liter, machte einen Höllenlärm und hatte bei 115 Kmh kaum noch Bodenhaftung.
Das waren Autos für uns, für Helden!
LG TT

 eiskimo antwortete darauf am 05.09.19:
Hach, Du weckst intensivste Erinnerungen..... Mit der Ente waren meine damalige Freundin und ich in Schweden. Im Winter! Minus 25 Grad. Die Frontscheibe fror immer wieder zu. Meine Beifahrerin saß im Schlafsack neben mir und kratze die Scheibe frei.
Das hat sie so gut gemacht - heute ist sie meine Frau.
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