[Mutterklopfen.]

Bild

von  Elén

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[..]

Da ist unbemerkt ein Herbst hineingegangen in die Straße. Nebel geht. Nebel geht mit ausgefransten Schuhen den Berg hinauf um mit kühlem Finger ein letztes Sonnengeflecht aus den Wolken zu ziehen. Vom Berg oben kann man ein Haus sehen, kann man die Dächer der Siedlung sehen, die im Licht des aufsteigenden Morgens verhalten glänzen. Das Haus neben dem Spielplatz hat ein rotes Dach und keine Vorhänge sind in den Fenstern. Das Haus wirkt stumm, es wirkt abgewendet von der Tagseite und aus der Ferne sieht es aus, als hätte es die Augen zugemacht. In diesem Haus wohnen Blumen, die sind hineingetopft in braune Keramik ohne Lasur. Die Blumen blühen nicht. Die Blumen reden nicht. In dem Haus wird überhaupt nicht viel geredet. Man macht alles leise. Die Tage sind schreckhaft geworden unter den Gegebenheiten. Im Regal liegen Bücher. Die Stühle sind korrekt an die Tischkante gerückt. Noch vor geraumer Zeit hat ein goldener Hamster in einer Kiste gewohnt im Vorzimmer. Er ist gestorben und in den Himmel aufgefahren. Ganz leise und über Nacht ist er abgereist ohne Vorrat. Auch eine Frau wohnt in dem Haus und ein Mann und ein Kind, das von weit hergeholt wurde und irgendwie zurückgeblieben wirkt und nicht lacht. Das Kind ist schön. Es hat große, braune Augen, es hat feine Hände und einen zarten Mund. Es spielt oft mit einer Puppe. Die Puppe hat ein weißes Gesicht und gelbe lange Haare. Das Kind bindet der Puppe einen dicken Zopf. Es kämmt der Puppe das Haar. Es legt dem Puppenkind die Hand an die Stirn und wiegt es im Arm. Das Kind ist sauber. Es legt seine Puppe ins Bettchen und deckt es zu. Es schaut die Puppe an und summt ohne Ton ein Lied das von weit hergeholt ist. Die Mutter ruft das Kind und das Kind merkt auf und horcht auf die helle Stimme der Frau und es legt den Kopf zur Seite. Man kann es sehen, wenn man sehen kann: Jedes Mal, wenn die Mutter das Kind beim Namen ruft, tritt ein Schatten ins Zimmer und hebt ein Lid. Im Haus geht eine Frage und das Haus ist beklemmt. Man kann das fühlen, wenn mal fühlen kann und wer hellhörige Ohren hat, der hört. Am Fenster des Nachbarhauses steht manchmal die Nachbarin. Sie hat drei Kinder, die laut sind und wild und die oft die Kleider schmutzig machen beim Spielen. Die Mutter schimpft, wischt die Haare aus dem Gesicht und den Schweiß und lacht und die Kinder lachen auch und rennen ohne Schuhe und mit schmutzigen Füßen in den Garten hinaus. Auf dem Berg steht jetzt die Sonne hoch oben ohne Strümpfe und mit kalten Füßen. Gemeindearbeiter bringen Schneestangen aus, stellen diese entlang der Straßen auf. Eine Stange dahin, die andere dahin, die nächst dorthin. An der Bäckerei neben dem Amt halten sie inne und werden begrüßt vom Gesellen, der den Teig von den Fingern in seine Schürze wischt. Eine Zimtstange aus Lebteig schmeißt er jedem der Arbeiter aus dem Türrahmen übern Zaun und die Männer fangen. Vergelt‘s Gott! Beherzt beißen sie ins Gebäck, schultern gleich wieder ihre Arbeit und ziehen weiter. Auch am leisen Haus ohne Hamster schlagen die Männer Stangen in die Erde. Der Boden ist kalt. Die Erde spröde. Das Kind schaut aus dem Fenster hinaus zu den Arbeitern. Der Mann mit dem dicken Bauch, mit dem orangen Drillich, mit dem weichen Gesicht legt seine Stange zur Seite und winkt dem Kind. Das Kind winkt zurück. Leise. Es hat eine Stange Geld gekostet.

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Kommentare zu diesem Text


 eiskimo (11.09.19)
Es fängt sehr surreal an, geheimnisvoll, mit beklemmenden Bildern - dann wird es immer "normaler", fast vertraut. Ich "knabbere" noch an den Stangen, die da in unterschiedlichster Funktion auftauchen und in den Mutterboden geklopft werden.
Schöner rätselhafter Text.
LG

 LottaManguetti (11.09.19)
Spröde =spröde

(viertletzte Zeile)

Sehr lyrischer Text.

 Annabell (11.09.19)
... die nächste (e) dorthin.
Sehr schön geschrieben. Dafür ein *chen.
.
LG Annabell

 Momo (11.09.19)
Hallo Elén,

ich mag dieses Bild. Ich mag seine scheinbar nebensächlichen Details und die Art, wie es die Dinge verfremdet, z.B. der goldene Hamster, statt Goldhamster.
Ja, es wirkt surreal, dieses Haus mit seinen Bewohnern, so, als gehörte es eigentlich nicht da hin, als wäre es aus einer anderen Welt in diese Siedlung hinein gesetzt worden, ohne jeden Bezug.
Dieses Kind, das von weit hergeholt wurde und sein lautloser Ton, ebenfalls von weit hergeholt, passt dazu. Und obwohl es schön ist und sauber, scheint es mit einem Schatten behaftet zu sein.
Das ganze Haus wirkt lebensfeindlich, steril. Sogar die Blumen können hier nicht leben.

„Mutterklopfen“ erinnert an Herzklopfen, das Herz als Synonym für Wärme und Lebendigkeit, die hier aber (als Gegensatz?) ganz und gar zu fehlen scheint.
Der letzte Satz ist interpretationswürdig, so wie man eigentlich den ganzen Text auf verschiedene Arten interpretieren kann.
Gerne gelesen.

LG Momo
managarm (57)
(11.09.19)
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 Bergmann (16.09.19)
Sehr schönes, filigranes Stillleben als Text. Eine faszinierende, aufregend ruhige Betrachtung des pulsierenden Lebens.

 Thomas-Wiefelhaus (25.08.20)
Gefällt mir. Mein Gefühl: hohes Tempo, lies sich Atemlos.
Frage mich, ob der Text möglicherweise sehr schnell geschrieben wurde und sehr spontan entstand?
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