Silberstreifen

Kurzgeschichte zum Thema Krieg/Krieger

von  Buchstabenkrieger

Mama war sehr wütend, als sie die Erdkrumen entdeckt hatte.
»Willst du dich zum Ziel machen?«, sagte sie und kehrte den trockenen Schmutz auf.
Ich wusste nicht, was sie meinte, stand bloß da und sah ihr zu.
»So wie die Leute, die von Zügen springen? Für einen Sack Kartoffeln, für ein paar Rüben. Und von Scharfschützen oder Tieffliegern erschossen werden!«
Mama weinte, und ich schüttelte den Kopf, versprach ihr alles, was sie von mir verlangte.
Denn ich war keiner von den Leuten. Dennoch schlich ich erst aus dem Haus, wenn sie eingeschlafen war, und befreite mich von Schuhen und Strümpfen, bevor ich den Acker betrat.

oOo
Die Stoppeln kitzelten unter meinen nackten Füßen. Im Mondlicht sah alles pechschwarz aus. Sie mussten weiter hinten liegen, sonst wären sie mir aufgefallen. Ich stapfte los; es war wichtig, der erste zu sein, Fritz und Karl konnten jeden Moment hinzustoßen, wohnten bloß ein paar Straßen weiter.
Am Rande der Gleise lagen sie. Verstreut, wild durcheinander; so wie der Wind sie dorthin getragen hatte. Selbst in stockfinsteren Nächten wie dieser funkelten und glitzerten sie. Stark reflektierend, das einzig Sichtbare. Ich kam näher und hielt die Hand vor dem Mund, riss die Augen auf. Hunderte, nein, tausende, vielleicht zehntausende. Lang, schmal, in verschiedenen Längen und Formen. Ich begann die Schätze aufzuklauben. Fritz und Karl würden mir ihre seltensten Varianten anbieten, um einige der heute besonders vielen und schönen Silberstreifen abzubekommen.

oOo
Wochen zuvor hatte ich zum ersten Mal beobachtet, wie Flieger lamettaähnliches Gebilde abwarfen. Es sah aus, als haftete etwas in der Luft. Es glich einem Vorhang, der vom Himmel fiel und sich langsam dem Boden näherte, sich über Wiesen, Felder und Äcker ausbreitete.
In dieser Nacht sammelte ich so viele Streifen ein, wie ich in Händen halten konnte.
Als tagsdrauf Fritz und Karl meinen Fund sahen, meinte Fritz, der Ältere: „Was hast du denn da? Los, gib mir welche!“
Vor der Zeit hatten die beiden Brüder mich ständig in der Schule gehänselt und geärgert. Also gab ich ihnen einige der Silberstreifen, bevor sie mir alle abnahmen.
„Wenn du uns sagst, wo du sie herhast, lassen wir dich in Ruhe“, sagte Fritz noch.
Zum ersten Mal fühlte ich mich gebraucht, konnte ich jemanden beeindrucken. Das war die Geburtsstunde für unser Spiel: das Sammeln und Tauschen von Silberstreifen.

Nach unserem ersten gemeinsamen Aufsammeln trafen wir den Opa der beiden Brüder, der gerade Schrott von der Straße auflas. Unseren Fund hatten wir versteckt, aber ein Silberstreifen hing aus Karls Hosentasche. Der Alte zog ihn heraus. »Papier«, murmelte er, während er das Teil mit seinen dünnen Fingern betastete. »Stanniol. Eine Aluminiumschicht.«
Wir drei schauten uns verdutzt an, während uns der Alte mit neugierigen Augen anblinzelte. »Von wo habt ihr es? Gibts davon noch mehr?«
»Nein, nein! Bloß von einem verdorrten Tannenbaum, der im Gebüsch lag«, unterbrach Fritz seinen Bruder Karl, der gerade etwas sagen wollte und zum Acker deutete.
Seitdem trafen wir Drei uns immer nachts, wenn alle im Keller waren. Wir nahmen auch keinen einzigen der Silberstreifen, die wohl ziemlich wertvoll sein mussten, mit nach Hause.

Nachts sammelten wie die Silberstreifen ein, im Sonnenaufgang sortierten und archivierten wir und tagsüber tauschten wir mit den Nachbarskindern. Auch vor größeren Kindergruppen verteidigten die beiden Brüder ihre und meine Silberstreifen, und ich fühlte mich zum erstem Mal in dieser Zeit auf eine Art sicher.
Fritz besaß den Schlüssel für das abgelegene Gartenhäuschen auf dem ehemaligen Schürmann-Hof, wo wir unsere Sammlungen deponierten. Anfangs war ich skeptisch, hatte ich Angst, dass sie mich betrügen würden, und ich passte auf, dass sie nicht die besten Stücke für sich beanspruchten, blieb an ihrer Seite. Aber Fritz, der als einziger von uns lesen und schreiben konnte, vermaß alles mit einem Stock, in dem er Kerben geschnitzt hatte, notierte Abmessungen, Farben, Formen und Besonderheiten in sein Büchlein, legte alles in separaten Papiertüten und verwaltete so akribisch das Eigentum eines jeden Einzelnen.
Mama hatte mir erzählt, dass Papa vor der Zeit Schneider war, und ich stellte mir vor, wie Papa ähnlich mit kunterbunten Stoffen, glänzenden Tüchern und Fäden von unterschiedlicher Dicke und Festigkeit hantierte.

oOo
Ich suchte das Gelände weiter ab, übertrat dabei die Gleise. Als ich aus der Ferne Geräusche vernahm, machte ich mich am Gleisbett ganz klein. Eine Weile kauerte ich dort, dachte, Schreie zu hören. Dann wieder Stille. Obwohl es Hochsommer war, roch ich Kälte. Der Tod liegt in der Luft, sagte mir eine innere Stimme. Ich musste wohl an die Züge gedacht haben, an die Hungernden, an die Scharfschützen, an die Tiefflieger. Hoffentlich kamen bald die Brüder.
Ich wartete nicht mehr länger, zog Socken und Strümpfe wieder an und eilte mit vollen Händen und Hosentaschen zum Gartenhäuschen. Es war jedesmal ungewiss, ob das Versteck nicht entdeckt worden war oder der dürftige Holzverschlag, denn mehr war es nicht, überhaupt noch stand. Ich rüttelte an der verschlossenen Tür und versteckte die Streifen schließlich hinter einem kleinen Hügel, unter Geäst.
Der beißende Geruch in der Luft nahm weiter zu. Ich zog Rotz hoch und spuckte ihn auf die Erde. Es war, als schmeckte ich Rauch und Qualm auf der Zunge.
Als ich vor unserem Haus stand, wischte ich mir den Staub ab und drehte mich nochmal um. Kurz überlegte ich, dann lief ich los. Ich bog ab, rannte, übersprang Mauerreste, Schutt und Asche, stolperte über bloßliegendes Wurzelwerk, riss mir die Hosen an dornigen Büschen auf, rannte zur Straße, in der die Brüder wohnten, zur Straße, in der dichte Schwaden Rauch und Qualm hingen. Zur Straße, die undurchdringlich geworden war.
In dieser Nacht fand ich das Haus der Brüder nicht wieder.

oOo
Einen Silberstreifen besitze ich noch heute.
Als ich viele Jahre später einen Artikel über die Operation Gomorrha gelesen hatte, fiel er mir wieder ein. Ich suchte und fand meinen Schatz schließlich ordentlich gefaltet in einer Blechdose.
Papier, so stand es in der Zeitung, ist sonst keine Waffe. Aber beidseitig mit einer dünnen Aluminiumschicht bedampft stört es als Täuschmittel Radaranlagen.
Erst da begriff ich, dass das wunderschöne Lametta mit die Schuld am Tod von Zehntausenden trug. An dem Tod von Fritz und Karl, die mich in der Schule ständig geärgert hatten. Die meine besten Freunde waren.


Anmerkung von Buchstabenkrieger:

Inspiriert durch die Geschichte "Kinderspiele während des Zweiten Weltkriegs und danach" von EkkehartMittelberg.
Lieben Dank nochmal, Ekki.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (10.10.19)
Kriegskinder-Romantik, wie mir scheint.

 Buchstabenkrieger meinte dazu am 11.10.19:
Danke, dass du meine Geschichte gelesen hast, Dieter.

Ja, so könnte man es bezeichnen. Obwohl das nicht meine Intention war.

LG und ein schönes Wochenende
Buchstabenkrieger

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 11.10.19:
Ich mag diese Art Verklärung nicht.

 EkkehartMittelberg (10.10.19)
Lieber Frank, du hast aus meiner stofflichen Vorlage eine berührende Kurzgeschichte gestaltet, die mir sehr gefällt. Ich sage dies nicht aus Eitelkeit, weil ich dich dazu animieren konnte.
Liebe Grüße
Ekki

 Buchstabenkrieger schrieb daraufhin am 11.10.19:
Lieber Ekki,

freut mich sehr, dass du meine Geschichte berührend findest und dir sie gefällt.
Danke auch für die Empfehlung.

LG, ein tolles Wochenende,
Buchstabenkrieger
Sätzer (77)
(12.10.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Buchstabenkrieger äußerte darauf am 13.10.19:
Lieber Sätzer,

Schön, dass meine kleine Geschichte deine Sinne anregen konnte.
Danke für deinen Kommentar und die Empfehlung.

Schönen Restsonntag und
LG, Buchstabenkrieger
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