am Ende eines neuen Tages

Gedicht

von  juttavon

am Ende eines neuen Tages

ging er plötzlich durch die Allee
kreuzte Wurzeln
Blätter
er dachte Herbst
vor seinen Augen
zugepresst die Lippen

das Grün sank ins Schwarz
Schritte
Geruch Gewohnheit
über der Stadt der Dunst
des Tages
Lungen kämpfen

versuchen Gold
auf Schwarz zu schreien

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Kommentare zu diesem Text


 Habakuk (20.10.19)
Wieder einmal ein bildträchtiges Gedicht, liebe Jutta.
Bereits der erste Vers, identisch mit dem Titel, bringt mich ins Grübeln. V2 nicht minder.

„Am Ende eines neuen Tages“. Auf der spirituellen Ebene sind Tag und Nacht ein Symbol für Gegensätze, die gemeinsam dennoch eine Einheit bilden und nicht voneinander zu trennen sind. Dieser Gedanke, so dünkt mir, steckt womöglich in diesem Vers. Konkreter gesagt, Leben und Tod.
„Ging er plötzlich durch die Allee“. Ein Weg, eine Straße, eine Allee zeigen den Lebensweg an, auf dem man sich gerade befindet.
Analog zum Bewusstseinsstrom (stream of consciousness), einer Erzähltechnik in der Prosa, welche die scheinbar ungeordnete Folge von Bewusstseinsinhalten einer oder mehrerer Figuren wiedergibt, könnte das Gedicht einen plötzlich einsetzenden „Bewusstseinsstrom“ des lyr. Ich wiedergeben. Hervorgerufen durch den Herbst, eine durchaus melancholische Jahreszeit. Diese Jahreszeit macht uns besonders bewusst, dass etwas zu Ende geht. Der Herbst fordert auch dazu auf, über die in seinem Leben auftretenden Zyklen nachzudenken und die Dinge loszulassen, die man nicht mehr zu Ende führen kann. Der Herbst ist auch ein Symbol für die Endlichkeit.

„kreuzte Wurzeln / Blätter / er dachte Herbst / vor seinen Augen / zugepresst die Lippen.“

Die Wurzeln sind auf der spirituellen Ebene das Gegenstück zu den Trieben. Während diese nach oben ans Licht der Erkenntnis drängen, stellen die Wurzeln die Verbindung zur Erde her. Zusammen ergeben sie die Verbundenheit des Menschen mit der geistigen und der materiellen Welt.
Ein Blatt steht für eine Zeit des Wachstums oder für die Zeit an sich. Das Blatt versinnbildlicht vor allem Gefühle, Gedanken und andere psychische Vorgänge in uns selbst, je nachdem, ob es sprießt, voll ausgebildet, verwelkt oder abgefallen ist, gibt es Auskunft darüber, ob diese Teile der Psyche im Werden oder Vergehen sind.
Zusammengepresste Lippen wirken nervös und unsicher. Angst, etwas auszusprechen, Unzufriedenheit, ein Nicht-Wahrhaben-Wollen, schwingen in diesem Bild mit.

„das Grün sank ins Schwarz / Schritte / Geruch Gewohnheit / über der Stadt der Dunst / des Tages / Lungen kämpfen“

Grün steht für die Farbe des Frühlings, der Hoffnung, der Empfindungen. Schwarz ist aber auch ein Hinweis auf den seelischen Zustand, ein Zeichen für Trauer und Tod.
Es ist die Farbe der Nacht, der Dunkelheit, ein Bild für die Leere, aus der alles kommt, in der alles verschwindet. Und noch vieles mehr. Die Lunge ist für die Atmung zuständig und bedeutet Atemrhythmus und gleichzeitig Lebensrhythmus.
Das Bild der Stadt kann im erweiterten Sinn ein Zeichen für den emotionalen Bereich sein. Für die Expressionisten symbolisierte die Großstadt Angst, Beklemmung, Unübersichtlichkeit, Einsamkeit, Entfremdung, das Gefühl, in der Masse unterzugehen, Hektik, Anonymität, Kälte, und Gleichgültigkeit.

„versuchen Gold / auf Schwarz zu schreien“

Das Symbol des Goldes hatten wir erst kürzlich in einem deiner Gedichte. Es beinhaltet sehr viele Bedeutungsebenen. In diesem Vers mag es für Unvergänglichkeit und Schönheit stehen. Ich interpretiere es so: Das lyr. Ich schreit gegen seine herbstlichen Gedanken der Vergänglichkeit an, will sie nicht wahrhaben.

Stilistisch könnte ich noch auf die vielfältigen Klangfiguren eingehen. Das erspare ich uns dieses Mal.

Schön, liebe Jutta.

HG
H.

Kommentar geändert am 20.10.2019 um 01:31 Uhr

 juttavon meinte dazu am 22.10.19:
Dass Dich ein Vers von mir ins Grübeln bringt freut mich sehr, lieber H.
In Deinem schönen Kommentar ziehst Du wieder weite Bögen, tief ins Spirituelle hinein. Das entspricht sehr meinen Beweggründen, auch beim Schreiben. Manchmal fürchte ich allerdings bei Deinen großen Worten ein wenig um mein kleines Gedicht - hält es das aus?

Dass das Lyr.Ich manches nicht wahrhaben will, wie Du schreibst, würde ich gerne um den Aspekt ergänzen, dass es die Gegensätzlichkeit und Ambivalenz des Daseins spürt, hier z.B. von Grün bzw. Gold und Schwarz. Beides soll gelten, beides ist im Inneren und Äußeren da. Es geht um das Annehmen.
Da immer wieder das "Schwarz" dominiert, liegt der Impuls nahe, "Gold (...) zu schreien" - beide Farben sind real und symbolisch im Herbst sehr präsent.

HG Jutta

 BeBa (20.10.19)
Hallo Jutta,

das ist ein sehr intensiver Text. Ich lasse ihn gern auf mich wirken und merke, dass ich ihn noch oft lesen muss, um ihn zu fassen. Ich bin noch dabei ...

das Grün sank ins Schwarz
Schritte
Geruch Gewohnheit
über der Stadt der Dunst
des Tages
Lungen kämpfen

Für mich das Highlight!


LG
BeBa

 juttavon antwortete darauf am 22.10.19:
Danke, lieber BeBa. Schön, dass der Text Dich beschäftigt, und es für dich sogar ein Highlight gibt! Was will ich mehr?

HG Jutta
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