Der mutige Fisch, oder die Geschichte vom komischen Vogel

Märchen

von  C.A.Baer

Es war einmal ein Vogel, der lebte am Meer. Er trug ein unscheinbares dunkelgraues Federkleid, hatte einen kleinen hellgelben Schnabel, kurze dünne Beine, breite Füße, große Flügel, und auf seinem kleinen Kopf stellte sich sein Gefieder lustig auf. Wenn er sich aber in die Luft emporhob, kamen unter seinen Flügeln einzelne rote, blaue, grüne und weiße Federn leuchtend zum Vorschein. Weil er durchaus ein stolzer Vogel war, musste er ständig umher fliegen, wild mit seinen Flügeln schlagen, um Kunststücke zu vollführen, denn er wollte allen sein buntes Gefieder zeigen. Wenn man ihn sah, sagten viele nur: „Schaut, da ist er wieder, der komische Vogel,“ und die Möwen lachten ihn aus.
Bald ließ das Interesse an dem Vogel nach und er ward es ebenfalls müde, immer wieder die gleichen Figuren zu fliegen. Er setzte sich auf einen Stein, der aus dem Wasser ragte, und schaute den Fischen zu, die das warme und flache Gewässer genossen. Es ward Abend und langsam wurden die Fische weniger. Zuletzt war nur noch ein einziger übrig, und dieser glänzte so schön in dem rötlichen Licht der untergehenden Sonne. Der Vogel verliebte sich sofort in das rötlich goldene Schuppenkleid des Fisches und er breitete seine Flügel aus, um sein buntes Gefieder zu zeigen. Das sah der Fisch und öffnete und schloss immer wieder sein Maul, etwa so:

O ° O °

und sprach: „Guten Abend, lieber Vogel.“ Und als der Vogel nicht antwortete, schwamm der Fisch davon. Der Vogel verstand die Sprache des Fisches nicht, für ihn war er einfach nur stumm. Noch lange blieb der Vogel auf dem Stein sitzen, sang die schönsten Abendlieder und war ganz verzaubert von dem Fisch, bis ihn seine Artgenossen holten, die sich sehr über seinen merkwürdigen Zustand wunderten. Von nun an saß der Vogel jeden Tag auf dem Stein und wartete auf den Fisch und der Fisch wartete auf den Vogel und wenn sie sich trafen, genossen beide die schönen Abendstunden. Einmal öffnete und schloss der Fisch zum Abschied wieder sein Maul:

° ° O ° O

und sprach: „Es ist schön mit dir,“ und der Vogel meinte, dass der Fisch zu ihm gesprochen hatte, aber er konnte es wieder nicht verstehen und er sang seine Abendlieder.
Bald hatte der Vogel seine Artgenossen vergessen und diese wollten ihrerseits ebenfalls nicht mehr länger auf ihn warten und holten ihn auch nicht mehr ab. Ja, so sind die Vögel.
Eines Tages, als die beiden wieder beisammen waren, da sprang der Fisch aus dem Wasser, streifte nur leicht die Brust des Vogels und tauchte wieder unter. Dem Vogel ward auf einmal ganz warm ums Herz und er dachte: „Wenn der Fisch so mutig ist und aus dem Wasser in die Luft springt, so will ich das gleiche tun und in das Wasser zu dem Fisch hinunter tauchen.“ Er legte seine Flügel an und sprang hinein. Ach, wie war das herrlich. Sein Federkleid war so dicht, dass kein Tröpfchen Wasser an seine Haut kam und er konnte ganz nahe bei dem Fische sein. Dabei vergaß er beinahe, zum Atmen wieder nach oben zu schwimmen, so dass er sich beeilen musste. Und so ging es dann hin und her, hinauf und hinab. Daraus entwickelte sich bald ein munteres Spiel. Der Fisch versteckte sich und der Vogel musste ihn suchen oder umgekehrt, oder die beiden wechselten gemeinsam vom Wasser in die Luft oder von der Luft ins Wasser und beide dachten, dass es schön sei, zusammen zu sein. So spielten die beiden jeden Tag.
Einmal, da wurde der Vogel zu übermütig und verletzte den Fisch mit seinem Schnabel ein wenig nahe an dessen Schwanzflosse. Es kam ein winziges Tröpfchen Blut aus der Wunde und vermischte sich mit dem Meer. Sie spielten weiter wie immer und zum Abschied sagte der Fisch:

° O ° O

„Lebe wohl, mein lieber Vogel, nun kann ich nicht mehr kommen!“ Der Vogel merkte, dass der Fisch ihm etwas sagen wollte und meinte, trotz seiner Unvorsichtigkeit, freundliche Worte zu vernehmen. Als der Fisch fort geschwommen war, begann er darum wieder, die schönsten Abendlieder zu singen, denn er war so glücklich. Der Fisch hörte seinen Gesang, und obwohl er ihm wegen der kleinen Wunde nicht böse ward, wurde er sehr traurig und versteckte sich in seiner Höhle.

In den dunklen Tiefen des weiten Meers lebte eine schreckliche Seeschlange. Weil es in ihrer Tiefe nur Dunkelheit gab, ward sie ganz gierig nach glänzendem Gold und leuchtenden Edelsteinen. Sie wusste von dem Fisch mit den goldenen Schuppen und hätte ihn gerne für sich gehabt. Sie witterte das Blut des verletzten Fisches und machte sich eilends auf den  Weg, ihn zu suchen. Es dauerte nicht lange und sie hatte ihn gefunden. Sie öffnete ihren großen Schlund, nahm den Fisch darin gefangen und verschwand mit ihm in der Dunkelheit, um ihn in ihrer Felsenhöhle auszusetzen. Hier gab es kein Entkommen mehr und der Fisch sollte sein ganzes Leben bei der Seeschlange verbringen.
Von nun an saß der arme Vogel jeden Tag auf dem Stein und wartete vergebens auf den Fisch. Der Sommer verging und es wurde kälter. Das Singen verstummte. Die Möwen kamen vorbei, sahen den Vogel in der Kälte zittern und sagten nur: „Schaut euch den komischen Vogel an, jetzt ist er ganz verrückt geworden.“ Und weil der Vogel dann doch nicht ausschließen konnte, dass der Fisch ihn verlassen hatte, weil er so unvorsichtig gewesen war, wurde er ganz traurig und sang:

„Wo bist du
lieber Fisch?
Ach wenn ich‘s
doch nur wüst‘.
Käme gleich zu dir!
Du mein Fisch,
du mein Fisch.“

Da tauchte aus dem Wasser die uralte Schildkröte auf. Die hatte in ihrem Leben schon viel gesehen und wollte nun von dem Vogel wissen, warum er so klagte. Der Vogel erzählte ihr alles, was sich zugetragen hatte und die Schildkröte erzählte von der gierigen Seeschlange, die den Fisch gefangen hielt. Der Vogel schämte sich sehr, dass er so laut geklagt und ahnte plötzlich, was ihm der Fisch sagen wollte. Er sprach: „So will ich los ziehen und den Fisch vor der gierigen Seeschlange retten.“ Die Schildkröte sagte: “Du musst in das Land der fliegenden Fische ziehen und die Seeschlange aus ihrer Höhle heraus locken. Wenn dir das gelingt, kannst du deinen Fisch befreien, aber richtig erlösen kannst du ihn erst, wenn du ihm  im richtigen Augenblick die richtige Frage stellst. Sei vorsichtig, denn der Weg ist weit und die Seeschlange wohnt im tiefsten Meer. Wenn sie dich entdeckt, wirst du zugrunde gehen.“
Der Vogel zog los und flog und flog. Er flog bis ans Ende der Welt und als es wieder wärmer wurde, war er im Land der fliegenden Fische angekommen. Als er diese sah, gesellte er sich zu ihnen und wanderte mit ihnen durch Luft und Wasser, so das er große Sehnsucht nach seinem Fisch bekam. Die fliegenden Fische dachten nur, was das für ein komischer Vogel wäre, der mit ihnen schwamm und flog, doch sie hatten ihn gern. Der Vogel verstand auch die Sprache der fliegenden Fische. Da sagte der Vogel: „Ich will zu der gierigen Seeschlange hinab tauchen und den Fisch mit den goldene Schuppen erretten.“ „Das ist schwer, aber nicht unmöglich,“ sagten die Fische, „wir wollen dir helfen und werden für dich die Seeschlange aus ihrem Versteck locken, damit du den Fisch befreien kannst. Hoffentlich wirst du genügend Kraft haben, denn wir können es nur einmal wagen. Mögest du  Glück haben.“
Die Fische und der Vogel schwammen hinunter. Der Weg war weit, doch der Vogel hatte gelernt, lange zu tauchen. Es wurde immer dunkler und der Vogel blieb ganz dicht bei den Fischen. Da sahen sie einen goldenen Schein, das war die Felsenhöhle der Seeschlange mit dem Gold des Fisches. Die fliegenden Fische schwammen nun vor die Höhle und lockten die Seeschlange heraus. Als der Vogel den Kopf der Schlange vor dem goldenen Schein gewahr wurde, erschrak er. Dabei hob er ein wenig seine Flügel, so dass ein paar bunte Federn nur kurz in der Dunkelheit aufleuchteten. Als die Seeschlange das Leuchten sah, wollte sie sofort darauf zu, doch die fliegenden Fische lenkten sie weiter ab. „Flieh nach oben und flieg zur Felsenküste, sonst bist du verloren,“ sagten sie. Aber der Vogel sprach: „Danke, ihr lieben Freunde, bis hierher habt ihr mir geholfen. Nun muss ich den Kampf alleine bestehen,“ und tat nichts als nur seine Flügel ausbreiten, sodass seine bunten Federn leuchteten. Die Seeschlange kam auf ihn zu, und der Vogel dachte, sie würde ihn holen. Sie hielt aber inne. Da sagte der Vogel: „Du Schlange, ich erkenne dich, du hältst mein Liebstes gefangen. Ich schaue dich an ohne Furcht. Wenn Du mich haben willst, dann nimm. Aber du wirst erfahren, dass ich hier unten sterben werde und mein Leuchten vergeht, denn ich brauche die Luft.“ Da mutete es ihm an, als flutete aus der Höhle der Seeschlange das hellste Licht, als wenn das Gold des Fisches hell wie die Sonne selbst ward. Und die Seeschlange zog einen weiten Kreis um ihre Höhle, fasste ihr eigenes Schwanzende in ihr Maul und senkte sich zum Grund des Meeres nieder. Sie wurde durchsichtig wie Glas und begann selbst zu leuchten wie ein Mond. - Jetzt wurde es aber Zeit, dass der Vogel wieder an die Oberfläche kam, denn er musste ja atmen. Er schwamm so schnell er konnte und schaffte es noch so eben und nahm einen tiefen Atemzug, atmete ein - aus und wieder ein. Nun konnte er gestärkt hinunter zu der Felsenhöhle. Er trat voller Ehrfurcht in sie ein, und befreite den Fisch mit den goldenen Schuppen. Die Freude war unendlich groß und der Fisch dankte dem Vogel, dass dieser so mutig gewesen sei. Und plötzlich verstand der Vogel die stumme Sprache des Fisches. Er dankte den fliegenden Fischen für ihren Beistand, da sie das Schauspiel mit angesehen hatten und tief ergriffen waren. Alle verabschiedeten sich voneinander und Fisch und Vogel machten sich gemeinsam auf den Heimweg. Sie wollten nun wieder jeden Tag beisammen sein. O wie ward das eine schöne Reise!

Als der Fisch mit den goldenen Schuppen nach Hause kam, freuten sich alle Bewohner des Meeres und die Nachbarn und Freunde halfen dem Fisch, seine Höhle neu herzurichten. Darüber vergaß der Fisch den Vogel. Indes saß der Vogel auf dem Stein und wartete auf den Fisch. Er sang die schönsten Lieder, die sich aber bald wieder in Traurigkeit verwandelten. Zuletzt sang er:

„Wo bist du
lieber Fisch?
Ach wenn ich‘s
doch nur wüst‘.
Käme gleich zu dir!
Du mein Fisch,
du mein Fisch.“

Als der Fisch das hörte, fiel ihm der Vogel wieder ein und er schwamm so schnell er konnte zu ihm, und weil das Klagen so laut wurde, schoss der Fisch aus dem Wasser, öffnete sein Maul und umschloss damit den kleinen Schnabel des Vogels, damit dessen Klagen verstummten. Als der Fisch wieder im Wasser war, verwandelte sich der Vogel in einen Prinzen mit kostbaren Kleidern, die mit Edelsteinen besetzt waren, mit Rubinen, Smaragden, Saphiren und Mondstein. Und hinter dem Prinzen erhob sich ein prächtiges Schloss mit einem Hafen. Der Fisch schaute alles staunend mit an. Da nahm der Prinz den Fisch mit den Händen aus dem Wasser und sagte: „mein lieber Fisch, du hast mich erlöst“ und er küsste ihn. Da verwandelte sich der Fisch in eine Prinzessin, die hatte ein prächtiges Kleid mit lauter Stickereien aus Gold an. Und die kleine Höhle des Fisches verwandelte sich in ein Schiff, das sich aus dem Wasser empor hob. Aber das Haar der Prinzessin  war grau und ihre Haut mit Fischschuppen bedeckt. Sie schaute immer zu dem Schloss hinüber und erwartete, dass der Prinz sie endlich einlud, doch der Prinz schaute hinaus auf das Meer und sah das Schiff kommen. Da fragte er die Prinzessin: „Liebes Mädchen, willst du mit mir auf das Schiff gehen und Wind und Wellen spüren?“ Da fielen die Schuppen von der Prinzessin ab und ihre Haut wurde rein und weiß und ihr graues Haar wurde wie Gold, denn der Prinz hatte die richtige Frage zur rechten Zeit gestellt und die Prinzessin antwortete: „Mein lieber Prinz, mit dir gehe ich von Herzen gern, denn jetzt hast du mich wirklich erlöst.“ Die beiden waren füreinander bestimmt. Und so stiegen sie auf das Schiff und segelten los und waren glücklich miteinander und wenn sie nicht gestorben sind, dann segeln sie noch heute.

O °


Anmerkung von C.A.Baer:

An dieser Stelle hat der Autor versucht, innere Vorgänge zu reflektieren und im Stile eines Volksmärchens niederzuschreiben.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(19.10.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 C.A.Baer meinte dazu am 20.10.19:
Herzlichen Dank!

 Jorge (11.10.20)
Ich habe es bis zum Ende gelesen und finde es interessant, märchen-und fabelhaft.
Obwohl solch langen Texte auf dem Bildschirm meine alten Augen leicht strapazieren.
LG
Jorge

 C.A.Baer antwortete darauf am 12.10.20:
Vielen Dank, Jorge. Es freut mich, dass der Text märchenhafte Stimmungen hervorrufen konnte und "nur" deine Augen strapaziert hat.
Herzliche Grüße
Chris
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram