Mein Seelenbaum

Kurzgeschichte zum Thema Betrachtung

von  Februar

Mein Seelenbaum
Lange, wahrscheinlich schon vor meiner Geburt stand er da. Groß trutzig majestätisch.
Sein Stamm ist rau und schorfig, so dick, dass ihn nur mit großer Mühe vier Leute umfassen können.
Richtig wahr nahm ich ihn das erste Mal, als es regnete. Unter seinen weit verzweigten Ästen fand ich Schutz. Als der Schauer nachließ, fand ich die würzige Luft darunter köstlich. Warum nicht ein wenig hier verweilen?
So lehnte ich mich an seinen Stamm und träumte. Unzählige wohlgeformte Blätter zierten seine Äste. Ein leises Wispern ließ mich aufhorchen.
„Hallo, du da unten, gefällt es dir?“ Dabei kitzelte ein kleines Zweiglein meine Nase. Irritiert sah ich nach oben. Sanft wiegte sich der Wipfel im Abendwind.
„Wir sind alle Deine Verwandten. Jedes einzelne Blatt ist aus Deiner Familie.“
„Aber so eine große hatte ich doch nicht.“
„Ach“, lachte das Stimmchen, „du hast ja gar keine Ahnung. Von Anbeginn deiner Sippe, stehe ich hier. Sieh nur die kleine Knospe, sie wird zur Blüte für das Kind das demnächst geboren wird.“
Mich fröstelte. Erwartete doch tatsächlich in den nächsten Wochen meine Enkelin ihr erstes Baby. Ich sah mir das Wunder genauer an.
„Aber da fehlen schon Blütenblättchen.“
„Ganz recht, der Hagel hat es zerschlagen.
„Und, wird das Menschlein auch einen Schaden haben?“ Bei dem Gedanken schauderte es mich.
„Warten wir es ab, wer weiß das schon“, antwortete die Stimme.
„Aber was ist mit den vielen anderen Blättern.“
„Siehst Du, das wollte ich dir gerade erzählen. Das sind alles die Seelen Deiner Sippe. Deine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und so weiter. Eines Tages wirst auch du dabei sein. Kein Blatt geht verloren, weder im Sommer noch im Winter. Dem Baum sprießen die verlorenen Blättchen jedes Jahr auf das Neue.“
„Aber ich dachte unsere Seelen wären bei Gott im Himmel.“
„Du kleines Dummerchen, wo soll er nur soviel Platz hernehmen. Irgendwann ist es da auch mal voll. So gefiel ihm der Gedanke mit den Bäumen, ist doch eine schöne Idee. Oder?“
„Aber woher sollen wir Menschen denn wissen, welcher Baum der Unsrige ist?“
„Eine gescheite Frage. Hin und wieder verirrt sich jemand und sucht Schutz, so wie du eben. Du hattest Glück, dass es der Richtige war.“
„Werden mich Deine Blätter immer wieder ansprechen, wenn ich darunter stehe?“
„Wenn du deine Ohren spitzen kannst, und deine Augen offen hältst, ganz bestimmt.“ Nun vernahm  ich ein leises Lachen und viele Leute unterhielten sich. Fasziniert lauschte ich, um vielleicht die Stimme meiner Mutter zu hören.

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Kommentare zu diesem Text

Sätzer (77)
(22.10.19)
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 Dieter_Rotmund (23.10.19)
Das ist mir persönlich inhaltlich zu kitschig.

 Moja (23.10.19)
Märchenhaft!
Lieben Gruß, Moja

 Februar meinte dazu am 23.10.19:
Danke Euch für Eure Kommentare. Gruß Februar

Antwort geändert am 23.10.2019 um 13:17 Uhr

 Dieter_Rotmund (08.01.20)
" Groß trutzig majestätisch."
Ist das eine Aufzählung?
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