Die Letzten der Welt

Kurzprosa zum Thema Abschied

von  keinB

I
Liebevoll zupft C mir Traumperlen aus den Augen.
Ihr Lachen perlt in meine Herzsplitter.
Ich will schlafen, sage ich bedacht, und entziehe mich ihren Armen.
C wortwandelt im Schlaf. Ich verstehe sie nicht. Manchmal singt sie.
Sie liegt neben mir, lautlos. Ich höre ihren Wimpernschlag.
Du weißt, wir sind die Letzten der Welt, durchbrechen ihre Worte meine Dämmerung.
Ich täusche Schlaf vor.

II
Ich habe dir geschrieben, sagt sie und lächelt nicht ein bisschen.
Ich habe dir geschrieben und das Papier zerrissen in Myriaden von Wortfetzen.
Ich kenne das, sie hat öfter Anwandlungen.
Ich habe sie gegessen, sagt C und stellt behutsam die Kaffeetasse vor sich auf den Schreibtisch.
Ich habe meine Worte gegessen. Jetzt habe ich keine mehr.
Ich greife nach ihrem Arm, ziehe sie an mich heran und küsse ihr die Zweifel von der Stirn.
Ich schenke dir meine, wenn du willst, sage ich.
C schweigt.

III
Manchmal erstickt Buch im Schweigen.
Sie sammelt Uhren an, verliert Klarheit in ihrem Ticken.
Ich bin eine Sanduhr, aus meinem Kopf läuft die Zeit.
Lesart sitzt auf dem Bett.
Du kennst mich, sagt sie.
Du bist mein Buch, imaginär und doch real, ein Paradoxon selbst wie ich, erwidert er.
Ich werde bald leer sein, sagt sie und verstellt die Uhren.
Lesart sieht sie nicht an. Er sieht Buch nie an. Er ist nicht halb so real, wie sie es glauben will.
Doch - er ist da. Und sie sein Buch.
Du kannst die Zeit nicht anhalten, wie sehr du dich auch bemühst. Weißer Sand rieselt aus seinem Mund.
Ich muss es versuchen. Es ist meine Zeit, sie gehört mir, ich darf damit machen, was ich will.
Die Zeit gehört dir nicht. Du hast sie nur geliehen.
Sie sieht ihn an, Schmetterlinge leben in seinen Nasenflügeln.
Du, bricht es aus Buch heraus. Du bist der Grund. Du bist die Möglichkeit, die mir fehlt. Du bist das Leben, das ich gesucht habe. Du bist der Sonnenstrahl, der mich im Keller nicht erreicht. Ich bin nur das Buch, das du schreibst.
Du bist das Buch, das ich lese. Mehr nicht.
Das ist alles? fragt sie und verstellt aufs Neue die Zeit.
Wie könnte ich dich schreiben? Ich bin Geist in deinem Geist, ich bin dein Sand. Deine Suche und dein Keller. Aber du, du bist nur mein Buch. Ich habe keinerlei Einfluss auf dich, deine Sonne oder dein Leben.
Schreib mich! fleht Buch, schenk mir Zeit, zeig mir Sonne.
Ich kann nicht, sagt er, der Sand in seinem Mund wird rot.
Mir fehlt das Meer, flüstert sie.
Das Bett ist leer.

IV
Wie viel erträgt der Mensch? Wie viel ertrage ich? frage ich den Spiegel im Badezimmer.
Viel mehr als du dir vorzustellen bereit bist, ist die Antwort.

V
Willst du mich umbringen? Cs Augen flackern. Sie driftet ins Vorher. Verärgert fischt sie eine Stecknadel aus ihrer Suppe.
Was soll das, willst du mich loswerden? Dann musst du es nur sagen, und ich gehe.
Du vergisst dich, sage ich kühl, wir sind die Letzten der Welt.
Wir sind am Ende, sagt C und kippt den Rest der Suppe in den Abfluss der Spüle. 30 Stück, du wolltest wohl sichergehen, was?
Wir sind am Anfang, erwidere ich ruhig.
Zehn Jahre nennst du Anfang? faucht sie.
Ich kenne das, sie hat diese Anwandlungen öfter. Ich falte sorgsam die Zeitung zusammen, lege sie auf den Tisch und gehe ins Badezimmer. Spiegelschrank auf, kurz erschreckt mich mein Spiegelbild, ich suche, finde.
Wie lange hast du deine Tabletten nicht mehr genommen? rufe ich.
Was denn für Tabletten? Ich habe noch nie Tabletten genommen.
Seufzend nehme ich eine aus der Packung und gehe zurück. Zu ihr und ihrem alten Leben.

VI
Sie könnte ein Kätzchen sein, denke ich, als ich C zusammengerollt auf dem Sofa liegen sehe. Ein Glückskätzchen, für einen Moment muss ich lächeln, bis mir einfällt, eher nicht. Sie wortwandelt unverständlich. Ich setze mich neben sie und überlebe die Umstände einmal mehr.

VII
Wenn ich Buch bin, bist du Leser. Ich kann nicht eine Seite vor dir verstecken, nicht einen Satz, nicht ein Wort oder einen Gedankenstrich, egal wie viele Gedanken ich streife, du findest sie. Ich kann mich zurückziehen in das schwarze Loch meiner Seele, und doch - du findest. Die Leere ist brüchig wie meine Fingernägel, sie existiert nur für mich, denn du findest. Wir haben das Leben gemeinsam und den Tod. Den Sand und mein Meer. Auch Worte waren einst unser, aber ich habe sie geschluckt. Sie liegen mir ebenso schwer im Magen wie im Kopf zuvor. Ich vermisse gestern. Die Halbwahrheiten wiegen die Lügen nicht auf. Es sumpft, verstehst du? Ich bin das Buch, aber die Seiten verbleichen immer mehr. Noch kannst du in mir lesen, aber bald... bald. Es ist kaum noch Zeit in meinem Kopf. Sie ist weg.
Sie ist zurück, sagt Lesart, zurück nach Hause. Sie gehört dir nicht. Du hast sie nur geliehen. Wie deine Leere. Wie mich.
Ich habe dich nicht geliehen, sagt Buch scharf, ich habe dich geschaffen.
Schwerlich finden ihre Worte den Weg über ihre Synapsen. Sie schlägt sich die Hand vor den Mund: Ich...
Du brauchtest die Zeit einfach nicht mehr. Und jetzt, er lächelt und sieht sie an, jetzt brauchst du mich auch nicht mehr.
Du kannst doch nicht... nein, nicht jetzt, ich... Buch verfällt in Schweigen.
Du hast immer noch die Leere. Aber auch sie wirst du nicht ewig nähren. Leb wohl, liebes Buch.

VIII
Ich bin ein Buch, sagt C und flüstert in die Decken.
Ich bin nicht verblichen, ich bin nur noch nicht fertig. Hörst du? stößt sie mich an.
Ja, ich höre, sage ich, immer noch sinnsuchend.
Wir sind nicht die Letzten der Welt, sagt sie, ihre Stimme hat einen anderen Klang, ich habe sie nie gehört.
Wir sind die Ersten. Ihre Augen glänzen vor Erregung.
Geht es dir gut? frage ich, ein seltsames Gefühl fließt durch meine Blutbahnen.
Die Leere ist gegangen, strahlt sie.
Hast du deine Tabletten schon wieder vergessen? Ich bin beunruhigt, obwohl ich das kenne, sie hat solche Anwandlungen ja öfter.
Tabletten! lacht sie und wirft sich auf den Rücken.
Ich bin ein Buch. Das Meer ist zurück. Für einen kurzen Moment war ich erschrocken darüber, aber... Es ist anders. Ich muss es neu zusammensetzen. Es ist so klein und ich bin dafür verantwortlich.
Irgendetwas hält mich davon ab, ihre Tabletten zu holen. Sie scheint glücklich. Ihre Augen sprühen Funken, ihre Haare glänzen, ihr Mund lacht Zeit. Ihre Hölle hat sie abgestreift, sie hat sich gehäutet, hat die Tabletten weggehäutet, ihre Angst, ihr Misstrauen, wie ein Kind kommt sie mir vor, ein mit dem Leben zufriedenes kleines Mädchen im bereits verblüht gewesenen Körper einer Frau. Sie geht auf über mir, gütig, bestimmt. Ihr Blick schreit nach vergessenem Leben. Ich könnte mich wieder in dich verlieben, denke ich, schweige.
Wir sind nicht die Letzten der Welt, auch nicht die Ersten, aber wir sind unvermeidlich, nicht wahr? streife ich ihr Ohr.
Ich bin ein Buch, sagt C, nimmt meine Hand und bettet sie zwischen Kraft und Gnade.
Ich bin noch nicht fertig, aber da sind Worte, viele Worte, sie sind zurück, sie haben sich verändert.
Wie du, sage ich, und hoffe auf Gnade.
Sie summt, während sie sich anzieht und treffsicher zielt.

IX
Ich setze Splitter zusammen.


Anmerkung von keinB:

.
2005

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Kommentare zu diesem Text

Sin (55)
(12.11.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 keinB meinte dazu am 12.11.19:
Danke dir. :)

Liebe Grüße zurück

 LottaManguetti (12.11.19)
Diese Text enthält wieder einmal Bilder, die (mich) sprachlos machen wegen ihrer Kreativität.
Und genau das ist es, was ich an deinen Texten so lesenswert finde, warum ich sie immer lese. Leider kommentiere ich sie zu selten!

Ich höre ihren Wimpernschlag
Ich habe meine Worte gegessen. Jetzt habe ich keine mehr.
...
Ich schenke dir meine, wenn du willst, sage ich.

Diese und viele andere Ideen in deinem Text lassen mich staunend lesen. Alle Achtung! Da kann jemand schreiben!

Lotta

;-)

Kommentar geändert am 12.11.2019 um 14:17 Uhr

 keinB antwortete darauf am 12.11.19:
Zum zweiten Mal heute: Danke! :)

Liebe Grüße
KB
Fisch (55)
(12.11.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 FRP (12.11.19)
"Sie sammelt Uhren an, verliert Klarheit in ihrem Ticken. " !!!

 keinB schrieb daraufhin am 12.11.19:
(:

 Dieter_Rotmund (12.11.19)
Die Zeit gehört dir nicht. Du hast sie nur geliehen.

Ochnöö, keinB, das ist ja derart alt und abgenudelt, ich kann es gar nicht in Wort fassen!

Und dann noch dieser riesige Qualitätsunterschied zwischen diesem bleiern-drögen Metaphernwust und der super Geschichte des Sinnsuchers im Keller.... Hat da jemand dein kV-Account geknackt und stellt jetzt unter deinem Namen diesen - Entschuldigung - peinlichen Mist herein? Ich kann's kaum glauben!
Erschüttert: DR.
Fisch (55) äußerte darauf am 12.11.19:
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 keinB ergänzte dazu am 12.11.19:
Dieter, hast du eigentlich kein anderes Hobby als mir auf den Sack zu gehen?

Antwort geändert am 12.11.2019 um 17:56 Uhr

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 12.11.19:
Nein, ich bin Deine Nemesis, Dein Verderben, Dein Gewissen, Dein verstoßener Zwilling und Dein Unglück.

 keinB meinte dazu am 12.11.19:
Vorsicht. Sonst fahr ich nach KA, finde dich und tret dir gegens Bein.
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