Geheimnis für Kleingries

Kurzprosa

von  Oreste

Es war ein heiterer Vormittag im Oktober. Wie jeden Tag um diese Zeit begab sich Kleingries, ein alleinstehender älterer Herr, auf seinen kleinen Spaziergang durch den nahegelegenen Park. Für gewöhnlich lief er immer dieselbe Runde; einmal im Uhrzeigersinn um den Teich. Bei schlechtem Wetter machte er auch schon mal auf halber Stecke kehrt. An diesem Tag aber trieb es ihn sogar ein ganzes Stückchen weiter in Richtung des alten Herrenhauses. Klinkerrot mit schneeweißen Fensterläden stand es, umgeben von einer Handvoll Bäumen, auf einer kleinen Anhöhe, sodass es schon von weiter Ferne die Blicke der Parkbesucher einfing. Es übte eine merkwürdige Anziehung auf Kleingries aus – an jenem heiteren Vormittag im Oktober mehr denn je.

Kleingries näherte sich dieser prachtvollen Erscheinung mit stetig schneller werdendem Schritt, als er plötzlich ein seltsames Geräusch vernahm. Ein leises, abgehacktes Summen, das so klang, als entstamme es einem jungen Mädchen und einer alten Frau zugleich. Er machte Halt und horchte. Ein paar Meter abseits des Weges, hinter einem breiten Baumstamm, vermutete Kleingries den Ursprung des Summens. Ihm schien, als verstecke sich dort jemand, doch er hatte keine Idee, wovor. Seine Neugierde war geweckt. Vorsichtig näherte er sich dem Baum. Mit einem Mal schoss da ein Gesicht hervor und starrte ihn mit weit aufgerissenen, rehbraunen Augen an. Eine großgewachsene Gestalt von hagerer Statur kam zum Vorschein und winkte ihn zu sich; ähnlich, wie man jemanden zu sich winkt, dem man ein Geheimnis ins Ohr flüstern möchte. Kleingries zögerte. Er machte zunächst ein paar Schritte seitwärts, ehe er in der Gestalt eine junge Frau – zweifelsfrei diejenige, zu welcher das Gesicht gehörte – erkannte. Er atmete kurz auf, lief ihr dann aber geradewegs entgegen.

Wie sie schließlich voreinander standen, deutete die junge Frau auf Kleingries' linke Hand und nickte dabei gleichmäßig mit dem Kopf auf und ab, wohingegen ihr schwerer geflochtener Zopf unrhythmisch hin und her baumelte. Kleingries streckte sie ihr entgegen. Sie kniff ihre Augen kurz, dafür fest zu. Mit zweien ihrer Finger zeigte sie in Richtung seiner Augen und er tat es ihr gleich. Kurz darauf vernahm er das Klicken eines Kugelschreibers und verspürte einen leichten, spitzen Druck, welcher in linienförmigen Bewegungen auf seiner Handinnenfläche umherwanderte. Das kitzelte etwas, doch er ließ sich nichts anmerken. Nachdem die junge Frau den letzten Strich gezogen hatte, schloss sie Kleingries‘ Hand. Dabei ging sie so behutsam vor, legte Finger für Finger langsam um, als läge etwas überaus Wertvolles in ihr, etwas, das besonderen Schutzes bedurfte. Aufgeregt tippte sie ihm jetzt an die Stirn.

Kleingries öffnete Augen und Hand und blickte gespannt auf ein kleines, kritzliges Kästchen. Es war hübsch, doch verschlossen. Zu seiner Verwunderung schien die junge Frau auf Anhieb zu begreifen und wollte das gleiche Spiel mit seiner anderen Hand wiederholen. Kleingries war einverstanden. Wie er nach einer weiteren Weile seine rechte Hand wieder öffnete, war da ein kleiner, kritzliger Schlüssel. Kleingries war sichtlich verwirrt. Rat suchend sah er die junge Frau an, doch deren Gesicht war jetzt vollkommen ausdruckslos. Dann wandte sie sich ab, rannte laut lachend davon, stolperte, fiel hin, stand wieder auf, lachte und rannte weiter quer über die große Wiese.

Kleingries blieb wie angewurzelt am Baumstamm stehen und sah der jungen Frau hinterher. Nachdem ihr Lachen nicht mehr zu hören war, beschloss er, den nächsten Ausgang aus dem Park zu nehmen und sich ohne neuerliche Umwege auf den Heimweg zu begeben. An der Hauptstraße angelangt, fand er sich sogleich vor einer großen Tafel mit der Aufschrift „Nervenklinik Wiesengrund“ wieder.


Anmerkung von Oreste:

2016

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Kommentare zu diesem Text

Stelzie (55)
(13.11.19)
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 Dieter_Rotmund meinte dazu am 13.11.19:
Ja, bin auch kein Freund solcher "Schlusspointen", kann man aber stehen lassen, finde ich...
aliceandthebutterfly (36) antwortete darauf am 13.11.19:
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 Oreste schrieb daraufhin am 13.11.19:
@Stelzie

Das Geheimnis bleibt doch aber bestehen. Ich würde dieses Ende als halboffen bezeichnen.

Danke für deine Rückmeldung.
O.

 Oreste äußerte darauf am 13.11.19:
@Dieter

Danke!


@alice

Hm ja, das ist auch ein (Gegen-)Argument. Danke dir!
Stelzie (55) ergänzte dazu am 13.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Hm!

Für dich besteht kein Zweifel daran, dass Kleingries der Bewohner der Nervenheilanstalt bzw. der Träumer ist?
Stelzie (55) meinte dazu am 13.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Ziehst du deinen Vorschlag zu Beginn damit zurück?

Antwort geändert am 13.11.2019 um 22:34 Uhr
Stelzie (55) meinte dazu am 13.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 14.11.19:
Gib mir etwas Bedenkzeit.

 LottaManguetti (13.11.19)
Eine mystische Geschichte von einem mystischen Mädchen.
Eine Erklärung, die aber keine sein muss: die Nervenklinik. Fragt sich, wer hier Patient ist, Kleingries oder das Mädchen oder keiner von beiden. Hier beginnt der Leser zu interpretieren.
Das lässt Raum für Mutmaßungen, die mir als Leser so frei gestellt bleiben wie auch die Bedeutung der Kritzeleien. Ein mystischer Text mit einer Vielzahl an Deutungen!
Besonders aufgefallen ist mir "wie angewurzelt an einem Baumstamm". Wenn das mal kein Zufall ist! ;)
Irre!

:D

Lieben Gruß
Lotta

 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Mir gefällt deine Erklärung samt Hinweis auf die vielen Deutungsmöglichkeiten!


Vielen Dank dir, Lotta, und lieben Gruß retour
O.
Fisch (55)
(13.11.19)
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Zu welcher Variante tendierst du?

Danke!
O.
Fisch (55) meinte dazu am 14.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 17.11.19:
Was du mir zu bedenken gibst, hat (*erneut seufz) Flosse und Schwanz.
Ich überlege selbst noch.

Danke dir für deine Mühe, F.
O.

 Oreste meinte dazu am 17.11.19:
SOLL ICH DEN LETZTEN SATZ JETZT STREICHEN ODER NICHT??
Fisch (55) meinte dazu am 18.11.19:
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Fisch (55) meinte dazu am 18.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 19.11.19:
Nun seh auch ich ganz klar - er steht jetzt bei eBay. Danke!

Danke sehr auch für die gewissenhafte Mühe, die du dir (auf mein charmant-infantiles Nerven hin) mit meinem Text gemacht hast, F. Das ist nicht selbstverständlich.

Deine Anregung ist natürlich, klar, Bombe. Ich überlege, mich spontan abzumelden, mich spontan anzumelden und sie platzen zu lassen. (;
Nee, die Idee ist wirklich klasse, ergo notiert. Danke, die Dritte.

O.
aliceandthebutterfly (36)
(13.11.19)
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Ja, auch das ist denkbar. Ich denke, ich bleibe bei dieser Fassung. Zumal das Geheimnis eben Geheimnis bleibt.

Danke sehr, Stefanie!
O.

 EkkehartMittelberg (13.11.19)
Die Geschichte ist insofern kafkaesk, als alles rätselhaft und vieldeutig ist. Sie wirkt auf mich trotz Nervenklinik mehr komisch als beklemmend.
Servus
Ekki

 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Danke dir, Ekki!

Komisch wie merkwürdig oder wie lustig?


Gruß
O.

 EkkehartMittelberg meinte dazu am 13.11.19:
Beides.

 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Okay!
Cora (29)
(13.11.19)
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Danke dir, Cora!

Mit einer Fortsetzung zwecks Lüftung des Geheimnisses?
Cora (29) meinte dazu am 13.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Mein Rätselvorrat ist begrenzt.
Cora (29) meinte dazu am 14.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 14.11.19:
Die hattest du doch von Anfang an im Sinn!
Cora (29) meinte dazu am 15.11.19:
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 Oreste meinte dazu am 17.11.19:
Ich glaube dir, Cora. Schon aus Prinzip.

:-)
managarm (57)
(13.11.19)
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 Oreste meinte dazu am 13.11.19:
Deine Lesart sagt mir sehr zu. Ich danke dir fürs Mitteilen! (:

Grüß dich lieb
O.
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