Wie ich einmal vor einer grünen Ampel stand

Szene zum Thema Alltag

von  Oreste

Wie ich einmal vor einer grünen Ampel stand, sprach mich rücklings ein Mensch ohne Lippen an.
Ich antwortete nicht.
Nach einer kurzen Weile beschloss der Lippenlose, sich mitsamt einer Kehrtwendung an mir vorbei und also um mich herum zu bewegen. Es ist anzunehmen, dass dieser Mensch, der keine Lippen hatte, sich von einem prüfenden Blick in mein Gesicht eine Erklärung für jenes sonderbare Benehmen versprach. Elegant und zielsicher fassten Mittel-, Zeigefinger sowie Daumen an den Rahmen meiner dunklen Brille und zogen diese mit Bedacht ein Stückweit herab, unterdessen ich lächelte und dem lippenlosen Menschen freundlich zunickte. Keinen Augenblick später: Tack. Tack. Tack. Entsetzlicher Schrei. Piiiiieeeeep. Schnell stand eine ganze Menschentraube vor dieser grünen Ampel. Vorsichtig wechselte ich die Straßenseite.
Das Letzte, was der Mensch ohne Lippen gesehen haben muss, waren zwei makellose Augenhöhlen.


Anmerkung von Oreste:

2013

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Kommentare zu diesem Text


 LottaManguetti (20.11.19)
Oreste, das ist ein toller Text!
Beim ersten Lesen, lachte ich auf. Beim zweiten Mal wurde ich nachdenklich. Und jetzt entfaltet er seine Wirkung: Ich denke darüber nach, warum ein Mensch mit Makel derart über einen anderen Menschen mit Makel erschrocken sein kann.
Bevor sich aber jetzt mein küchenpsychologisches Gedankenkarussel im Kommentar niederschlägt, mache ich lieber den Sack zu und überlasse das den folgenden Insfensterschreibenden.

Lieben Gruß
Lotta

 Oreste meinte dazu am 21.11.19:
:D

Das klingt ein bisschen nach Tassos L S D-Methode, was mich natürlich - ebenso wie ihn - sehr erfreut.

Lieben Dank dir, Lotta!
O.

 Artname (20.11.19)
Hallo Oreste, ich mag an deinen Texten, dass sie sich sehr überlegt um eine Stimmigkeit der einzelnen Details bemühen - während hier viele andere Autoren mE am liebsten nur Meinung an Meinung reihen.

Was ich verstehe: Das LI ist blind. so "gesehen" wird es von einem LD ohne Lippen angesprochen. Anschliessend kündet das Tack TacK von einem Wechsel der Signallichter und, in meiner Phantasie jedenfalls, einem Unfall des vermutlich schockierten LDs.

Wenn ich will, kann ich nach einer Botschaft des Textes suchen. Aber mir reicht zunächst bereits die Schlüssigkeit der Schilderung. Das beginnt bereits mit der "grünen" Ampel. Daraus folgt, dass das Lyrische Du anschliessend bei Rot über die Strasse ging.

Geschickt finde ich auch, wie der Autor mit " es ist anzunehmen " mE zweideutig schreibt. Einerseits drückt sich die Annahme eines Blinden aus.. andererseits kann es sich aber auch um eine Vermutung des sehenden Lyrische Ich's über das Innenleben des Lyrischen Du's handeln.

Vielleicht vermute ich mehr Absichten beim Autor, als ihn tatsächlich bewegten. Dann wäre das sicher etwas peinlich für mich, aber auch keinen Wunder angesichts der plakativen Ausdrucksweise, die hier bevorzugt benutzt wird.

 Oreste antwortete darauf am 21.11.19:
Mit deiner Interpretation liegst du goldrichtig, Artname. Ich danke dir für deinen Kommentar, der mir ehrlich viel Freude bereitet hat: Vielen Dank!

Grüß dich
O.
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