Weltenkreuzen

Kurzgeschichte zum Thema Andere Welten

von  Oreste

Dienstag Vormittag. Das Café ist spärlich besucht. Von meinem Fensterplatz aus bemerke ich mittig des Raums eine Frau, ganz in Schwarz gekleidet, vor einem Pinocchio-Becher. Ihr Gesicht ist auffällig weich gezeichnet. Ihre Haut glatt und hell. Große braune Augen, langes schwarzes Haar. Rubensfigur. Alterslos.
....Sie summt und seufzt und lacht und wippt dabei in unregelmäßigen Abständen mit ihrem Kopf vor und zurück. Wie Tauben beim Laufen. Manchmal kullern von ihren Lippen ein paar Worte, deren Bedeutung ich nicht kenne. Oder sie nickt kurz ein. Dann liegt ihr der Kopf auf der Schulter und die Hände zusammengefaltet auf dem Tisch. Ein Ölgemälde aus längst vergangener Epoche.
....Ab und an schaut sie zu mir herüber. Ich tue dann so, als sei ich in Gedanken versunken und blicke dabei nur zufällig in ihre Richtung. Einmal nehme ich mir ein Herz und erwidere ihren Blick mit einem Lächeln, was sie jedoch nicht wahrzunehmen scheint. Damit meine ich nicht, dass sie nicht zurücklächelt – ich kann tatsächlich nicht sagen, ob sie zurücklächelt –, nein, sie blickt regelrecht durch mich und mein Lächeln hindurch. Doch wirkt ihr Blick nicht etwa leer; er weckt in mir das Bild eines Wolfsjungen, dem zum ersten Mal eine Schneeflocke auf die Nase fällt. Oder doch eher die Vorstellung eines Sternguckers, dem soeben ein kleines Kind aus dem Großen Wagen heraus zuwinkt? Vielleicht erzählt er mir die Geschichte einer im Sterben liegenden alten Frau, die wohl und gut und mit allem im Reinen nicht den Wunsch verspürt, letzte Worte an ihre Angehörigen zu richten, sondern still lächelnd langsam schwindet. Es ist wohl leichter, denke ich irgendwann, das Nichts zu kartographieren, als diesen, ihren Blick zu beschreiben. Außerdem stehe ich noch immer vor der Frage, ob da nun ein Lächeln war oder nicht. Ich bin verunsichert. Fasziniert.
....Vielleicht, sage ich mir, macht es für die Schwarzgekleidete auch gar keinen Unterschied, ob oder ob nicht. Vielleicht sieht sie die Welt wie durch ein Kaleidoskop. Immer anders. Immer neu. Kunterbunt. Dabei habe ich ihr in jenem Augenblick vielleicht gar nicht zugelächelt. Vielleicht habe ich einen Handstand gemacht. Vielleicht trug ich einen falschen Bart. Vielleicht erkannte sie in mir ihre ektoplastische Sandkastenfreundin wieder, von der alle dachten, sie lebe jetzt irgendwo bei Kuala Lumpur, ja, womöglich existiere ich in ihrer Welt noch nicht einmal. Auch kein Dienstag Vormittag. Kein Café. Kein Pinocchio-Becher. Keine Kartographien, keine Beschreibungen. Keine Ursache und keine Wirkung. Kein Raum und keine Zeit. Und kein Kleingeld, welches jetzt sorgfältig abgezählt in kleinen Türmchen auf ihrem Tisch liegt.


Anmerkung von Oreste:

2015

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (21.11.19)
Details aus der Innenwelt.
Einem facettenreichen Nichtsgeschehen Spannung verliehen.
Fein gezeichnete Beschreibung.
LG TT

 Oreste meinte dazu am 21.11.19:
Das ist ein schöner Kommentar, Tasso, für den ich mich herzlich bedanke!

LG
O.

 Lluviagata (21.11.19)
💙

 Oreste antwortete darauf am 23.11.19:
(-:

 LottaManguetti (21.11.19)
Ich mag solche kafkaesken Geschichten! Als Leser begebe ich mich dann immer in völlig fremde Welten, die mir aufzeigen, wie einseitig ich selbst diese nur wahrnehme. Da muss es noch vieles anderes geben!

:D

Lotta mit Dank

 Oreste schrieb daraufhin am 25.11.19:
Hach! Danke, Lotta.

:-)
Fisch (55)
(21.11.19)
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 Oreste äußerte darauf am 24.11.19:
Welch wunderfischiger Kommentar.

Ich danke.
O.

 BeBa (21.11.19)
Gefällt mir ausgezeichnet, der Text ist so ganz nach meinem Geschmack!

 Oreste ergänzte dazu am 24.11.19:
Deinen Geschmack getroffen zu haben, freut mich immer besonders.

Ich danke dir herzlich, BeBa!
Al-Badri_Sigrun (61)
(21.11.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Oreste meinte dazu am 24.11.19:
Das freut mich. Danke dir, Sigrun!

 DanceWith1Life (21.11.19)
Diese Träumer, mein Mann ist auf den Tag genau heute vor 5 Jahren gestorben, ich trage das letzte mal schwarz und das Kleingeldtürmchen, ist alles was, er mir gelassen hat.
Aber ich mag diese Fenster in mögliche Welten und das hier ist fein gezeichnet.

 Oreste meinte dazu am 25.11.19:
Oh.
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