Gerichtslinde

Kurzgeschichte zum Thema Fantasie

von  Buchstabenkrieger

Karl war sich nicht sicher, ob es das Zeichen einer kommenden Katastrophe war, aber er wusste, dass auf seiner Lieblingsbank, unter der alten Linde, normalerweise keine nackte, blaue Gestalt mit aufgeklapptem Koffer saß. Karl trat zurück und stützte sich an die Wand des Optikerladens, den er gerade erst verlassen hatte. Er atmete aus, nahm seine Sonnenbrille ab, rieb sich die Augen und setzte sich das Teil wieder auf. Grundgütiger! Es war kein Traum.
Geschäftsleute aus umliegenden Gebäuden, Schüler oder Rentner wie er – ja, solche Typen waren es, die ihm mittags seinen angestammten, schattigen Platz wegnahmen. Aber doch nicht Aliens.
Karl schaute genauer hin. Der Kopf der Gestalt war lang und schmal, hatte die Form einer umgedrehten Birne. Die Augen: groß wie Mandarinen, die Schultern: schmal wie die eines Kindes; und die Brust war bloß flach. Alles in allem zwar hässlich und seltsam, aber mit Theaterutensilien wie Kostüm, Schminke oder Modelliermasse machbar. Nur die Füße nicht, erinnerten sie doch eher an Watschelfüße einer Ente.
Er überlegte, ob er heute Morgen seine Tabletten vergessen hatte, als ein Bus am Marktplatz vorbeirollte. Keiner der Insassen gaffte durch die Scheiben zum blauen Wesen. Über das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes schlenderten die Leute wie eh und je; eine Frau schob einen Kinderwagen an der Bank vorbei, schaute erst gar nicht hin. Und diese Gestalt hantierte unbekümmert weiter im silbernen Koffer herum. Ungefragt mitten auf seiner Bank. Ungestört unter seinem Baum.
Vor fünfhundert Jahren wurde unter der Linde unter freiem Himmel und in aller Öffentlichkeit Gericht gehalten, die Wahrheit gesprochen, wurden Schicksale besiegelt. Und jetzt saß unter dem Wahrbaum ein Außerirdischer. Sollte er jetzt das letzte Gericht halten? Über ihn?
Karl dachte nach. Schüttelte den Kopf. Er grübelte erneut und riss dann den Mund auf, nicht wissend, ob er schreien sollte, als ein Mann schnurstracks auf die Bank zueilte und dabei sein Pausenbrot aus der Aktentasche holte. In Gedanken malte sich Karl aus, wie das Alien nach seiner Neutronenkanone griff und den Mann in Schleim verwandelte oder einfach in Luft auflöste. Das Alien schaute kurz auf und nestelte dann weiter mit den langen, schlanken Fingern – hatten die Hände tatsächlich vier Glieder? – im Koffer herum. Der Mann blieb vor dem Alien stehen, griff nach seinem Handy und schaute aufs Display. Mit dem Telefon in der Hand drehte er sich um und zog im selben Tempo, in dem er gekommen war, von dannen.
Nachdem er das Brillengestell gerade geschoben hatte, schaute Karl in die andere Richtung. Schließlich stand er keine zwanzig Meter von dem Wesen entfernt. Es musste ihn bemerkt haben und wenn nicht, war es schlauer, gar nicht erst aufzufallen. So etwas hatte er in achtundsiebzig Jahren noch nicht erlebt. Er zwickte sich, zweifelte, ob er bei Verstand war.
Karl setzte die Brille ab, wischte sich erneut über die Stirn, lugte dabei aus dem Augenwinkel hinüber. Die Gestalt war verschwunden! Samt Koffer. Das konnte er auch ohne Brille erkennen. Karl ließ den Blick über den Marktplatz schweifen. Wie war es möglich, mir nichts dir nichts zu verschwinden?

Erleichtert atmete Karl aus, blinzelte. Die Sonne blendete zu stark, und er setzte die Brille auf. Er spürte das Pochen seines Herzschlags in den Schläfen, seine Fingerkuppen waren kalt. Die blaue Gestalt saß auf der Bank! Wieder oder immer noch, das vermochte er nicht zu sagen. Karl hob die Brille an. Eine Sonderanfertigung mit maßgeschneiderter Glasoptimierung und Spezialbeschichtung für seine mannigfachen Sehschwächen, wofür man ihm gerade die halbe Monatsrente abgeknöpft hatte, wenn er also unter eben dieser Brille hinweg in Richtung Bank schaute, sah er: Nichts, außer Baum und Bank. Verschwommen. Er schaute durchs Glas – sah die Gestalt. Er wiederholte es mehrmals. Nein, ja. Nein, ja. Nein, ja. Hastig drehte sich Karl zum Optikerladen, machte einen großen Satz und stand vor verschlossener Tür. Mittagspause. Wild klopfte er gegen die Scheibe. Nichts rührte sich im Inneren. 
Es war sinnlos, Hilfe zu holen. Keiner würde ihm glauben.

Aus dem Restaurant nebenan, wo er sich an heißen Tagen gelegentlich einen Eimer Wasser für den Baum geben ließ, trat eine Frau heraus. „Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie!“, rief Karl.
Die Frau blieb stehen. „Ja, bitte?“
„Ich muss heute wohl die Brille meiner Frau eingesteckt haben“, meinte  er lächelnd und nahm die Brille in die Hand. „Ich habe mich unter der alten Linde mit einem Freund verabredet. Sehen Sie, ob er schon auf der Bank sitzt? Ich möchte lieber hier stehen bleiben, ihn nicht verpassen, wenn er aus dem Bus steigen sollte“, sagte er und deutete auf die Haltestelle.
Die Frau machte einen langen Hals, hielt sich schützend die Hand über die Augen. „Nein, da sitzt niemand.“
„Keiner? Sind Sie sicher? Die Sonne … die Sonne …“, stotterte er. „Blendet Sie die Sonne? Hier nehmen Sie die Sonnenbrille!“
„Ist schon gut. Tut mir leid, ihr Freund ist nicht da“, sagte sie und ging weiter.
Mit rotem Kopf folgte er der Frau, fasste sie an die Schulter. „Nehmen Sie bitte die Brille!“
„Lassen Sie mich los!“ Sie löste sich aus der Umklammerung und ging mit schnelleren Schritten weiter.
Karl holte sie ein, blieb vor ihr stehen und hielt ihr die Brille hin. „Nehmen Sie die Brille! Los! Die Brille!“
„Hilfe!“, schrie die Frau, machte kehrt und rannte fort. 
Karl setzte sich die Brille auf und lief ihr über das Kopfsteinpflaster hinterher. „Vielleicht kommen noch mehr von ihnen!“
Ein paarmal stieß er gegen die Kanten der kleinen Pflastersteine, kam ins Straucheln und rief weiter: „Wer weiß, was sie vorhaben!“ 

Langsam trottete er zurück zum Marktplatz und sah das Alien noch immer auf der Bank sitzen, den Koffer auf dem Schoß. Plötzlich wurde ihm kalt. Am Himmel blitzte etwas auf. Die Erde vibrierte unter Karls Füßen und die alte Gerichtslinde schwebte vom Nebel umgeben einige Meter über den Boden. Wie in Zeitlupe wedelten die am Baum hängenden, meterlangen Wurzeln.
Dann ein lauter Knall, und der Baum schoss in Sekundenschnelle in den Himmel, wie eine hinaufkatapultierte Rakete. Augenblicklich war alles wieder wie zuvor. Nur, dass der alte Wahrbaum samt Alien verschwunden war. Mit ihm all die Wahrheiten. All die Gedanken, die er sich unter dem Baum gemacht hatte. Die Vorwürfe, die Ausreden, die Entschuldigungen; die Geheimnisse, die er ihm anvertraut hatte. Niemand sonst wusste von dem Mädchen. Kein Mensch wusste, wo er es hingebracht hatte.
Karl ging näher, sah ein tiefes Loch, als hätten Arbeiter einen alten Baum samt Wurzel ausgebuddelt und vergessen, die Stelle mit Erde aufzufüllen.
Auf und rund um den Marktplatz herrschte das typische Mittwochmittag-Treiben. Keiner der Leute schien etwas realisiert zu haben, noch zu merken, dass der Baum fehlte. Und mit ihm die ganze Wahrheit. Die Bank aber war geblieben. Karl drehte sich mehrmals um, ging dann auf die Bank zu. Erst langsam, dann immer schneller. Der Koffer lag aufgeklappt auf der Sitzfläche. Karl beugte sich darüber. Sein Herz klopfte wie wild, als er vorsichtig hineinlinste. Ein Zucken durchflutete seinen Körper. Die Wahrheiten. Karl schaute genauer hin, begriff. Der Wahrbaum hatte sie zurückgelassen.
Karl richtete sich auf, senkte den Blick und versuchte, die Tränen wegzublinzeln, dagegen anzukämpfen. Schnell schlug er den Koffer zu, riss sich die Brille herunter, warf sie auf die Erde und stellte den Fuß darauf. Trat nochmal drauf und nochmal, verlagerte sein ganzes Gewicht auf das Bein und stampfte und drehte den Fuß, bis die Bügel verbogen und die Gläser zersplittert waren. Dann schob er die kleinen Scherben mit dem Fuß in das Loch, das der Baum hinterlassen hatte. Karl packte am Griff des Koffers, konnte ihn nicht anheben. Mit beiden Armen umklammerte er schließlich den Koffer und drückte ihn an seine Brust. Ohne sich ein einziges Mal umzudrehen, ging er fort.

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (27.11.19)
Gut geschrieben, die Idee ist aber mehr oder weniger aus John Carpenters Spielfilm They live von 1988, der wiederum Ray Nelsons "Eight O'Clock in the Morning" (1963) verwendete (wobei ich letzteres nicht gelesen habe).

 Buchstabenkrieger meinte dazu am 27.11.19:
Hallo Dieter,

vielen Dank, dass du meine Geschichte gelesen und kommentierst hast.

Ich kenne den Film nicht, habe sofort bei Wikipedia nachgeschaut und bin überrascht, welche Parallelen es gibt. Wahnsinn.

Meine Inspiration zum Text, nein besser gesagt zum Schreiben allgemein (denn ich hatte einige Wochen keinen Drang verspürt), kam aus Alexander Steeles Schreibratgeber "Romane und Kurzgeschichten schreiben".

Dort schlägt er vor, den Eröffnungssatz "NN. war sich nicht sicher, ob es ein gutes Zeichen oder das Zeichen einer kommenden Katastrophe war, aber er wusste .." zu verwenden und ohne lange darüber nachzudenken oder innezuhalten einfach drauflos zu schreiben. Sozusagen seinen Gedankenströmen folgen. Mindestens 5 Minuten.
Daraus wurden dann 2 oder 3 Stunden und ein fast fertiger Entwurf zu einer Kurzgeschichte. Ein paar Tage liegen lassen, Schräubchen drehen etc. und schon hatte ich - finde ich zumindest - eine passable kleine Story.
Habe noch 9 Kapitel im besagtem Buch und jede Menge Anregungen vor mir. Mal schauen, was da noch folgt

Lieben Dank und viele Grüße,
Buchstabenkrieger
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