Stories #3: Die Geschichte eines Gewissens

Essay zum Thema Literatur

von  Graeculus

The Story of a Conscience
(Die Geschichte eines Gewissens)

Den bekanntesten unbekannten Schriftsteller der Welt hat sich Ambrose Bierce (geboren 1842, verschollen 1913/14) genannt. Dieses Prädikat kann man ihm noch heute zusprechen: nicht ganz unbekannt, nicht ganz vergessen, aber eher was für Leser mit einem speziellen Geschmack. Seine Kurzgeschichten aus dem US-amerikanischen Bürgerkrieg, in dem er auf seiten der Nordstaaten als junger Mann bis zu einer schweren Verwundung mitgekämpft hat, gehören dennoch zum Besten, was dieses Genre zu bieten hat.

„Die Geschichte eines Gewissens“ handelt von einem Hauptmann namens Hartroy, der mit seiner Einheit den Befehl hat, eine für den Nachschub enorm wichtige Eisenbahnbrücke zu sichern. Er läßt das Gebiet absperren, teilt an seine Bewohner eigene Passierscheine aus und droht jedem anderen, der sich der Brücke nähert, die standrechtliche Erschießung an.

Ein Passant wird von der Wache festgehalten, sein Passierschein als Fälschung identifiziert. Damit liegt der Fall klar, zumal die betreffende Person, Dramer Brune, sich in der Vernehmung als Spion der Konföderierten erweist.
Nun baut sich das Dilemma für Hauptmann Hartroy auf. Er muß, dem Kriegsrecht und seinem eigenen Befehl zufolge, Brune exekutieren lassen. Er muß es als verantwortlicher Offizier. Allerdings hat er im Laufe der Vernehmung erkannt, daß er diesen Brune bereits kennt – er ist ihm schon in einer früheren Phase des Krieges begegnet. Damals war Hartroy noch gemeiner Soldat und hatte den Befehl erhalten, einen zum Tode verurteilten Deserteur zu bewachen. Mit seinem Kopf (Kriegsrecht!) haftete Hartroy für diesen Gefangenen. Aber er war erschöpft von einem langen Marsch und sehr müde; er schlief ein – auf der Wache. Man muß das harte Kriegsrecht hier verstehen: Wachvergehen gefährden in hohem Maße das Leben der eigenen Leute.

Nun könnte der Gefangene fliehen. Er tut es jedoch nicht, weil er weiß, welche Folge dies für seinen schlummernden Wächter hätte; der Gefangene weckt sogar seinen Bewacher, bevor die Ablösung kommt und sein Versagen bemerkt.
Dieser damalige Gefangene, dem Hartroy sein Leben und damit alles andere verdankt, war Dramer Brune.
Die beiden Männer unterhalten sich im Zelt des Hauptmanns. Brune erklärt ihm, unter welchen nachvollziehbaren Umständen er damals aus der Unionsarmee desertiert ist: Er ist ein überzeugter Südstaatler, der bei Kriegsausbruch unglücklicherweise in den Nordstaaten wohnte und deshalb gegen seinen Glauben eingezogen wurde. Sein Leben habe er nach seiner Festnahme und der Szene mit dem bedauernswerten Wachsoldaten noch durch eine Flucht retten können. Hartroy zeigt sich (in einer bei Bierce selten geschilderten Weise) emotional erschüttert, zerrissen zwischen menschlicher Dankbarkeit und militärischer Pflicht.

Die beiden Männer rauchen gemeinsam Zigarre (sowas konnte früher als Symbol der Anerkennung gelten), dann ruft der Hauptmann seine Ordonnanz und gibt den Befehl: „Dieser Gentleman ist ein Deserteur und Spion; er ist in Anwesenheit der Truppe zu erschießen. Er wird Sie begleiten, ungebunden und unbewacht.“
Ungebunden und unbewacht, der Gentleman? Will er ihm die Flucht ermöglichen? Dramer Brune flieht nicht, nicht mehr.

Den Rest der Geschichte bekommen wir aus der Sicht eines Neger-Kochs im Lager geschildert, dem vor Schreck der Löffel in die Suppe fällt, als er die Gewehrsalve des Exekutionskommandos hört, und dem dadurch der einzelne, bei weitem nicht so laute Pistolenschuß entgeht, durch den Hauptmann Hartroy seinem Leben ein Ende setzt.
Gemäß dem Wortlaut einer Notiz, die er dem Offizier hinterließ, der ihm im Kommando nachfolgte, wurde er wie der Deserteur und Spion ohne militärische Ehren begraben; und im feierlichen Schatten des Berges, der nichts mehr vom Krieg weiß, schlafen die beiden gut in längst vergessenen Gräbern.
So endet die Geschichte. Sich um Anstand zu bemühen selbst in Situationen, in denen das aussichtslos erscheint, und die Konsequenz zu ziehen, wenn es sich als gänzlich unmöglich erweist, das bleibt eine Herausforderung auch für Menschen, die das Glück haben, nicht in einen Krieg verwickelt zu werden.

Die Kurzgeschichten von Ambrose Bierce sind vielfach übersetzt worden. Die berühmteste von ihnen, die auch formal die Möglichkeiten erweitert hat, wie man in einer Kurzgeschichte vorgehen kann, dürfte „Ein Vorfall an der Owl-Creek-Brücke“ (An Occurrence at Owl Creek Bridge) sein. Ans Herz des Bücherfreundes kann ich die sehr schön gestaltete, mit eindrucksvollen Zeichnungen von Klaus Böttger versehene Ausgabe legen: „Mitten im Leben sind wir vom Tod umfangen. Erzählungen“ (Frankfurt am Main/Köln 1978) – ein altes Schätzchen der Büchergilde Gutenberg, aber, wie ich sehe, für 10,24 Euro + Porto bei booklooker erhältlich. Für bescheidenere Ansprüche: „Geschichten aus dem Bürgerkrieg“ (Zürich 1989). „Tales of Soldiers and Civilians“ ist eine aktuelle (2017), allerdings englischsprachige Ausgabe bei einem auf Nachdrucke spezialisierten Verlag.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (08.12.19)
Zwei Feinde erweisen einander die Ehre, aus Gewissensgründen.bis in den Tod Gentlemen zu sein. Ob in den "schmutzigen" Kriegen heute so viel Respekt vor der Persönlichkeit des Feindes noch denkbar ist, sie dahingestellt. Es tut der Qualität dieser Story keinen Abbruch
Vielleicht solltest du englischsprachige kurze Erzählungen nur als Story bezeichnen, denn der deutsche Begriff Kurzgeschichte hat einen offenen Schluss, den die Story von Bierce wohl nicht hat.
LG
Ekki

 Graeculus meinte dazu am 08.12.19:
Ein solcher Anstand ist in Kriegen gewiß nicht die Regel, war es auch im Sezessionskrieg, über den Bierce schreibt, nicht. Der damalige Marsch durch Georgia unter General William T. Sherman gilt sogar als der Beginn des modernen Vernichtungskrieges.

Also, "Kurzgeschichte" paßt nicht? Im englischsprachigen Raum gibt es ja nicht nur die Story, sondern auch die Short Story. Sogar "Short Short Story" habe ich schon gelesen. Ich bin da im Sprachgebrauch unsicher, zumal ich Literaturwissenschaft nicht studiert habe, sondern nur ein freudiger Leser bin.

 EkkehartMittelberg antwortete darauf am 08.12.19:
Ich gebe mal von den beiden Begriffen Shortstory und Kurzgeschichte eine Definition, heute nur zur Shortstory, weil es sonst zu lang wird.
"Shortstory (engl. = kurze Geschichte) ist ein anglo-amerikanische Kurzform der Epik, die formal nicht streng festgelegt ist. Sie entstand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA aus den Bedürfnissen des sich ausbreitenden Zeitungs- und Zeitschriftenwesens. Die Autoren haben den eiligen Leser des Industriezeitalters vor Augen. Der Umfang der Shortstory wurde von den Journalisten Fechter auf eine Formel gebracht : "Geschichte - einen Haarschnitt lang". Folglich musste sich der Autor auf eine entscheidende Situation, ein Ereignis, einen Augenblick konzentrieren und packend schreiben. Dem entsprechen ein geradliniger Handlungsverlauf, oft Beschränkung auf eine Hauptfigur, ein der Realität des Lebens entnommener Inhalt, eine flüssige, auf Effekte abzielende Sprache. Die geschlossene Komposition der Novelle musste aufgegeben, auf eine Entfaltung in Zeit und Raum verzichtet werden. Insbesondere Edgar. A. Poe und später O'Henry, London, Hemingway, Steinbeck und Faulkner entwickelten die Shortstory zur Kunstform, bei der die Situation oder das Ereignis zur "Essenz des Lebens" (Gero von Wilpert) werden musste." Herbert Fuchs und Ekkehart Mittelberg: Klassische und moderne Kurzgeschichten. Varianten - kreativer Umgang- Interpretationsmethoden. Berlin: Cornelsen, 7. Auflage 2016, S.122)

Antwort geändert am 08.12.2019 um 17:40 Uhr

 Graeculus schrieb daraufhin am 08.12.19:
Da bist Du ja ein Fachmann!
Wenn ich Dich recht verstanden habe, dann ist der Titel meiner Reihe ("Stories") unbedenklich, ich müßte nur innerhalb der Reihe mit den Begriffen sorgfältiger umgehen, richtig?
Du nennst als ein Kriterium der Kurzgeschichte den offenen Schluß. Als einen solchen kann man einen Doppeltod wohl nicht bezeichnen, das leuchtet mir ein. Ich manchen anderen Fällen bin ich mir da nicht so sicher.
Wenn ich es trotz meiner Bemühung einmal falsch mache, dann korrigiere mich, bitte.

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 09.12.19:
ja, der Titel deiner Reihe "Stories" ist unbedenklich. Wenn mir etwas Gravierendes auffallen sollte, werde ich mich melden.

 Graeculus ergänzte dazu am 09.12.19:
Gut, herzlichen Dank. Der nächste Teil wird bald folgen.

 princess (08.12.19)
Er war mit bislang vor allem durch des Teufels Wörterbuch als ausgesprochen lesenswert aufgefallen. Dein Text macht macht neugierig, die Story werde ich lesen. Danke für den Tipp!

LG p.

Kommentar geändert am 08.12.2019 um 12:18 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 08.12.19:
Das "Wörterbuch des Teufels" ist tatsächlich sehr lesenswert; ich glaube, damit hat Bierce sogar ein neues Genre erfunden: das Lexikon als Literaturform.

Es freut mich sehr, wenn ich Dich zum Lesen angeregt habe.
Cora (29)
(08.12.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 08.12.19:
Über sein Verschwinden herrscht noch heute Unklarheit, auch wenn er an seine Nichte eine Art Abschiedsbrief geschrieben hat.
Aber dort legt er möglicherweise eine falsch Spur: er wolle in das Bürgerkriegsland Mexico gehen, in der Hoffnung, dort als Gringo erschossen zu werden. Allerdings gibt es überhaupt keine Belege dafür, daß er dann auch wirklich nach Mexico gereist ist.
Ein Biograph vermutet, er habe sich in einem Seitental des Grand Canyon erschossen.
Mit Sicherheit kann man sagen, daß er sein Leben für abgeschlossen hielt und - irgendwie - verschwinden wollte.

Das Brückenmotiv spielt in der von Dir erwähnten Geschichte in der Tat eine zentrale Rolle, während es hier nur am Rande vorkommt: als Grund für die Einrichtung eines militärischen Sperrgebietes.
Eine weitere Rolle von Brücken in seinem Werk fällt mir nicht ein. Wir dürfen annehmen, daß sie in jedem Krieg eine wichtige logistische Bedeutung haben. Brücken des Feindes müssen zerstört, die eigenen um beinahe jeden Preis geschützt werden.

 TassoTuwas (08.12.19)
Eine Geschichte, die eine große Anzahl der modernen Zeitgenossen verwirrt zurück lässt! Begriffe wie Pflicht, Gehorsam, Ehre, gehören längst nicht mehr zum Standardverständnis, lassen sich allerdings, wenn wer will, googeln. (Satire beendet)
Wieder ein interessanter Beitrag
TT

 TassoTuwas (08.12.19)
Eine Geschichte, die eine große Anzahl der modernen Zeitgenossen verwirrt zurück lässt! Begriffe wie Pflicht, Gehorsam, Ehre, gehören längst nicht mehr zum Standardverständnis, lassen sich allerdings, wenn wer will, googeln. (Satire beendet)
Wieder ein interessanter Beitrag
TT

 TassoTuwas meinte dazu am 08.12.19:
Doppelklick!

Antwort geändert am 08.12.2019 um 14:14 Uhr

 Graeculus meinte dazu am 08.12.19:
Mögen sie googlen!, um Deine satirische Bemerkung aufzugreifen.

Ich freue mich, daß die Geschichte Dein Interesse gefunden hat.

 TrekanBelluvitsh (08.12.19)
So etwas ist ein Beispiel dafür, dass die meisten Menschen den Krieg wie einen Zug erleben, bzw. sich so verhalten, als wäre er ein Zug: Am Bahnhof entscheidet man sich für einen und steigt an. Dann fährt der Zug an und beschleunigt, bis sich niemand mehr traut abzuspringen und darum einfach sitzen bleibt, ganz gleich wohin der Zug fährt.

 Graeculus meinte dazu am 08.12.19:
In diesem Sinne, fürchte ich, ist das ganze Leben eine solche Zugfahrt. Man weiß, wenn man eine Anfangsentscheidung trifft, nicht wohin sie letztlich führt.
Speziell bei Bierce habe ich den Eindruck, daß der Krieg eine Chiffre für das Leben ist. Situationen, in denen man sich nicht richtig entscheiden kann, kommen auch sonst vor. Oder?
(Was die klassische Literatur angeht, so denke ich an Orest und Elektra.)

 Momo (09.12.19)
Hallo Graeculus,

dein Essay ist gut geschrieben, ich kannte Ambrose Bierce nicht.

Töten im Namen von (Kriegs)Recht und Frieden, Ehre und Anstand folgt einer ganz eigenen Logik. Sie scheint mir eine typisch männliche zu sein.

LG Momo

 Graeculus meinte dazu am 09.12.19:
Danke. Es ist eine interessante Frage, ob es für Frauen einen analogen Konflikt gibt.
In dem Maße, in dem Frauen zum Militär einrücken, erledigt sich freilich auch dieser Unterschied.

 juttavon (09.12.19)
Wichtige Fragen wirft Dein Text auf. Danke.
Ergänzend: Ein sprechendes Gewissen ist Grundlage jeder positiven Anarchie, wie ich finde.
HG Jutta

 Graeculus meinte dazu am 09.12.19:
Wenn das Gewissen/die Stimme des Gewissens doch nur eindeutiger wäre!

 GastIltis (09.12.19)
Hallo Graecu,
eine traurige Story, die dem Krieg etwas von seiner Grausamkeit nimmt und ihm das einräumt, was ihm zusteht, viel Ehre! Zu viel Ehre!
Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, erzählte mein Großvater, dass er im ersten Weltkrieg in Feuerpausen gelegentlich mit gegnerischen Soldaten Tauschgeschäfte durchführte, Kleinigkeiten: Tabak, Seife, Alltägliches.
Und dann gibt es auch noch die Geschichten vom Weihnachtsfrieden im Westen zwischen britischen und deutschen Soldaten, die sich dem Unsinn der täglichen gegenseitigen Vernichtung wenigstens an einem oder zwei Tagen entgegensetzten.
Die Insubordination von Mannschaften und Frontoffizieren hatte dann aber bald den Höhepunkt überschritten. Krieg war immer ein zu wichtiges Geschäft.
Sei weiter für den Frieden. Herzlich Gil.

 Graeculus meinte dazu am 09.12.19:
Oh, solche Geschichten kenne auch ich noch von meinem Großvater! Es war der Winter 1914/15; später kam das nicht mehr vor. (Noch heute habe ich ein Schnitzwerk im chinesischen Stil auf meinem Schreibtisch stehen, das ein französischer Soldat meinem Großvater geschenkt hat. Ein tiefes Symbol.)
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