Eine Zugfahrt

Kurzprosa

von  BeBa

Ich weiß nicht, wie lange ich nicht mehr mit der Bahn gefahren bin. Heute lässt es sich nicht vermeiden. Ich bin zu einem Vorstellungsgespräch in Süddeutschland eingeladen, und da mein möglicherweise neuer Arbeitgeber Zulieferer der Bahn ist, erhielt ich von ihm eine Fahrkarte zweiter Klasse zugeschickt. Womit die Fahrtkosten abgegolten sein sollten.
In meinen Bewerbungsunterlagen hatte ich meine Panik vor Bahnfahrten bewusst verschwiegen. Keine Ahnung, woher sie kommt. Vielleicht schlechte Erfahrungen in der Kindheit? Oder mündete die Tatsache, dass ich nie eine elektrische Eisenbahn zu Weihnachten geschenkt bekommen habe, am Ende in ein solches Trauma?
Ich stand also vor der Wahl, das Unmögliche zu wagen und mit der Bahn zu fahren oder aber den Job zu vergessen. Die zweite Alternative kam wegen meiner finanziell eher traurigen Lage nicht in Frage.

Letzte Nacht wurde ich dann prompt von Albträumen geplagt. Na ja, eigentlich war es ein Traum, den ich immer und immer wieder durchleben musste. Ich stand auf einem mir unbekannten Bahnsteig (wie sollte ich ihn auch kennen als Nichtbahnfahrer?), an dem gerade ein Zug abfuhr. Und dort, Sie glauben es wohl ebenso wenig wie ich, sitze ich in einem Abteil und schaue heraus. Schaue mich an, und ich, am Bahnsteig stehend, schaue zurück, sehe dieses blasse, verängstigte Gesicht hinter den Fensterscheiben. Ich, der ich hier stehe, winke mir zögerlich zu, und ich, völlig verängstigt, winke zurück und versuche zu lächeln. Klar, ich erkenne sofort das Erzwungene dieses Lächelns. Ich tue mir leid. Dann verliere ich mich aus den Augen. Der Zug legt an Geschwindigkeit zu. Ich sehe nur noch die Rücklichter, er biegt in eine Kurve und verschwindet. Und ganz plötzlich steigen dort Flammen auf, wo der Zug verschwunden ist, dazu schwarzer Qualm.
Und ich erwachte. So ein Blödsinn, dachte ich, drehte mich um, schlief wieder ein und träumte diesen Traum noch einmal. Und wieder und wieder, die halbe Nacht durch. Am Ende war ich froh, als der Wecker klingelte und ich aufstehen musste.

Ich weiß, dass ich etwas gegen meine Phobie tun muss. Und wenn ich diesen verdammten Job kriege und somit indirekt die Bahn mein Brotgeber wird, dann werde ich sofort nach einer passenden Therapie suchen.
Jetzt stehe ich erst einmal hier am Bahnsteig und sehe meinen Zug einfahren. Eine Familie mit Kind (dessen Nase widerlich läuft) und Koffern um mich herum, eine Nonne (sie hat wohl Gott dabei) und eine alte Dame, die statt Koffer nur eine Tasche mit sich trägt, aus der der Kopf eines hässlichen kleinen Hundes herausschaut. Siehst du, meint sie (ich nehme an, dass sie zum Hund spricht), da kommt er. Jetzt steigen wir hübsch ein.
Ich weiß nicht, wie man hübsch einsteigt. So wie ich gewiss nicht, aber immerhin finde ich mein Abteil. Genau gegenüber der alten Dame mit dem hässlichen Hündchen, neben uns Vater, Mutter und Kind mit laufender Nase. Fehlt eigentlich nur noch die Nonne. Aber als ich aus dem Fenster schaue (ja, ich habe einen der beiden Fensterplätze, den anderen hat der Hund mit alter Dame), sehe ich sie draußen stehen, die Glückliche.
Ein Pfiff, und das Ganze um mich herum setzt sich in Bewegung. Ganz langsam, ganz sanft. Ist doch gar nicht schlimm, denke ich so. Sehe aus dem Fenster. Schau mal, meint die alte Dame und der hässliche Hund schaut wirklich aus dem Fenster. Putz dir die Nase, meint die Mutter, und der Vater flüstert Lass ihn doch! Die Töle winselt widerlich und wird ganz unruhig in der Tasche. Da, sagt der Rotzjunge und zeigt auf den Bahnsteig, wobei sein Zeigefinger knapp meine Nase verfehlt. Gibt es doch nicht, meint die Mutter und der Vater flüstert Lass doch!
Ich schaue raus. Die Nonne! Sie winkt mir zu. Was ist denn das? Der Hund kläfft, der Junge widersetzt sich dem Taschentuch der Mutter, der Vater flüstert Lass doch! Und die Nonne, die da draußen steht, ist gar keine Nonne. Die Nonne, die da draußen steht, bin ich. Ich schaue mich an von draußen und von hier drin, ich winke und ich winke zurück. Der Zug beschleunigt. Schon bin ich weg und ganz allein mit Hund, alter Dame und Familie. Ich spüre, wie wir in eine Kurve biegen.

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Kommentare zu diesem Text


 TassoTuwas (22.12.19)
Flüssig und kurzweilig, mit präzis-ironischen Details garnierte Erzählung. Raffiniert auch, dass sich der Leser am Ende zwar nicht ratlos, aber doch mit mehr als einer Frage beschäftigen darf
LG TT

 BeBa meinte dazu am 23.12.19:
Danke TT,

freut mich, dass der kurze Text gefällt.

LG
BeBa

 EkkehartMittelberg (22.12.19)
Hallo Beba, du hast gekonnt das Motiv der gespaltenen Persönlichkeit bei Phobien thematisiert.
LG
Ekki

 BeBa antwortete darauf am 23.12.19:
Danke, Ekki.
fey (51)
(22.12.19)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 BeBa schrieb daraufhin am 23.12.19:
Danke fey.

LG
Beba

 FrankReich (22.12.19)
Hi Beba,

bei der Auslegung Deiner Kurzgeschichte beziehe ich mich auf die spirituelle Bedeutung des Traumsymbols "Nonne", das den Träumenden, in obigem Fall Wachträumenden dazu auffordert, Ballast abzuwerfen, bzw. eine Vorstellung zu verwirklichen, die ihn auf die nächste Stufe geistiger Entwicklung führt, somit also den nervigen Begleitumständen entgegenwirken soll.
Der Abschlusssatz untermauert dieses Bild, und es ist fraglich, ob der Protagonist die im Mittelteil angedeutete Therapie überhaupt noch benötigt, cooler Style Boss. :D

Ciao, Frank

Kommentar geändert am 22.12.2019 um 22:44 Uhr

 BeBa äußerte darauf am 23.12.19:
Ich danke dir, Frank. Auch für deine Auslegung.

LG
BeBa

 Dieter_Rotmund (27.12.19)
Es gibt noch Züge mit Abteilen?

 BeBa ergänzte dazu am 27.12.19:
Ich hoffe doch ...

LG
BeBa

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 27.12.19:
Habe schon serh lange keine mehr gesehen, es sei denn, sich gegenüberstehende Sitzreihen sind schon ein Abteil.
Dies nur am Rande.

 BeBa meinte dazu am 27.12.19:
Ja, der Trend geht tatsächlich zum Großraum, beim TGV schon lange. Beim modernen ICE gibt es meines Wissens auch keine Abteile mehr, beim IC jedoch immer noch. Im letzten Jahr bin ich von DA nach Karlsruhe im IC gefahren, und der hatte noch Abteile. Oder war das etwa auch ein Zugtraum?

Antwort geändert am 28.12.2019 um 00:43 Uhr

 GastIltis (07.01.20)
Hallo BeBa,
eine schöne Erzählung, die mich quasi über die Feiertage begleitet hat. Das meiste Interesse hat bei mir die Frage hinterlassen, was ist denn nun im realen Leben hinter der Kurve geschehen. Flammen, Qualm? Hast du etwas verschwiegen, was uns/mir vorenthalten werden sollte? OK. Als ich Weihnachten auf Usedom war, habe ich mir das Otto-Niemeyer-Holstein-Museum in Koserow angesehen. Was meinst du, womit er sein Anwesen begonnen hat aufzubauen? Mit einem S-Bahn-Waggon aus Berlin, den er nach Zempin per Bahn und von dort auf der Straße bis Koserow befördert hat. Vielleicht mal für dich ein Ort zum Nachdenken. Der Waggon fährt NIE mehr.
Sei herzlich gegrüßt von Gil.

 BeBa meinte dazu am 07.01.20:
Hallo Gil,

immer wieder schön, von dir zu lesen.

Das meiste Interesse hat bei mir die Frage hinterlassen, was ist denn nun im realen Leben hinter der Kurve geschehen. Flammen, Qualm?

eine sehr gute Frage, die ich bislang vermisst habe, um ehrlich zu sein.

Danke für diese Anekdote mit dem S-Bahn-Waggon. Ich liebe solche Geschichten, und sie sind ja auch nicht selten Auslöser für neue Texte. Diese Story hört sich aber wirklich sehr interessant an. Gehört habe ich davon bislang noch nichts. Ich glaube, ich werde mal googeln.


LG
BeBa
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