Gummibärchen

Kurzgeschichte zum Thema Liebe und Sehnsucht

von  Carlito

Es war Frühling in der kleinen Stadt im Ruhrgebiet.
Kim war an diesem Morgen zu Fuß zur Schule unterwegs. Sie würde bald fünfzehn werden. Eine warme Brise spielte mit ihrem dunkelbraunen Haar und liess es über ihre Schultern tanzen. Das Mädchen trug eine dunkle Jacke über ihrem mit Pailletten bestickten T-Shirt, eine Jeans und rosafarbene Leinenschuhe. Ihre weiße College-Tasche hatte sie mit vielen kleinen Filzstiftmalereien verziert. Ein Plüscheinhorn baumelte am Trageriemen der Tasche. Andere Jugendliche überholten sie, lachten und unterhielten sich angeregt. Kim hatte es nicht eilig, die Schule zu erreichen. Ihre Leistungen waren in letzter Zeit nicht gut gewesen, worüber ihre Eltern wenig erfreut waren. Auch ihr nahender Geburtstag stimmte das Mädchen nicht fröhlich.
Der Grund für all das war Alex. Alex hieß eigentlich Alexandra und besuchte eine Nachbarklasse. Ihr Haar war kurz geschnitten; die Seiten waren rasiert. Sie trug von Kopf bis Fuß schwarz. Alex engagierte sich politisch. Alex war rebellisch. Alex war eine Poetry-Slammerin. Alex war ihre Heldin.
Kim war unsterblich in Alex verliebt.
Kim war sehr hübsch und nicht wenige Jungen hatten versucht sie anzumachen. Es hatte ein wenig Knutschen auf Parties gegeben, aber mehr nicht. Kim hatte bald bemerkt, dass sie mit Jungen nicht viel anfangen konnte. Bei einer Schulveranstaltung war ihr dann Alex aufgefallen.
Auf dem Schulhof hatte sie aus der Ferne Alex oft verstohlene Blicke zugeworfen, als sie sich mit ihren Mitschülern unterhielt. Einmal hatte Alex sie bemerkt. Kurz, ganz kurz hatten sie einander wahrgenommen. Dann hatte Kim wie vom Blitz getroffen weggesehen. Sie traute sich nicht sie anzusprechen. Alex schien unerreichbar weit weg zu sein.

Dieser Schultag war genauso öde wie fast alle davor. Kim quälte sich durch die Stunden und hoffte inständig, dass sie die Schule lebendig verlassen würde. Sie wusste noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Sie zeichnete gern. Sie zeichnete recht gut. Kim kritzelte und skizzierte in jeder freien Minute. Auf ihre Tasche. In ihre Schulhefte. Am liebsten zeichnete sie Alex. Sie konnte sie mittlerweile aus dem Gedächtnis zeichnen; ihr Profil, ihre Haltung, den wachen Blick ihrer großen blauen Augen. Kim war ein wenig stolz auf ihr Werk. Aber sie verbarg es vor anderen Menschen. Selbst vor ihren Eltern und Freunden. Und natürlich vor Alex.

Der Schultag zog sich wie ein Kaugummi: Mathe, oh lieber Gott, Mathe! Lass es vorübergehen! Kunst … Beim letzten Kunstprojekt war es um große Männer gegangen: Alexander, der Große, Hannibal, Gaius Julius Caesar, und so weiter. Kim hatte diese Typen so dargestellt, wie sie es empfand: Sie erschuf verwegene Karikaturen von großkotzigen Idioten, die eine Therapie benötigten. Dafür hatte sie viel Anerkennung geerntet. Leistungskurs Französisch: Kim mochte französisch. Sie mochte den Klang und den Rhythmus der Sprache. Französisch lag ihr und dementsprechend gut waren ihre Noten. Vielleicht würde sie ja irgendwann einmal nach Frankreich reisen, nach Paris … zusammen mit Alex.
Kim sehnte das Ende des Schultages herbei, der sich endlos dahinzog. Bloß weg von hier!
Als der Nachmittag anbrach, ertönte endlich das erlösende Klingeln. Rasch stopfte sie ihr Schulzeug in ihre Tasche und machte sich auf den Heimweg, ohne sich um die Grüße ihrer Mitschülerinnen zu kümmern.
Ihr Weg führte sie durch einen Park. Aufgewühlt und niedergeschlagen wie Kim war hatte sie keine Lust sofort nach Hause zu gehen. Sie blieb stehen. Sie dachte nach. Sie beschloss zu sündigen. Rebellisch zu sein. Kurzentschlossen verließ sie den Weg, setzte sich im Schneidersitz auf eine nahegelegene Wiese, die von Sträuchern und Bäumen umgeben war, zog eine Tüte Gummibärchen aus ihrer Tasche und riss sie auf. ‚Nervennahrung‘, dachte sie seufzend. Gedankenverloren holte sie einen der bunten Bären aus der Tüte, schob ihn in ihren Mund, kaute langsam darauf herum, erfreute sich an der Süße und liess ihre Gedanken schweifen. Sie schloss ihre Augen, atmete tief ein, versuchte zu vergessen, die Außenwelt auszuschalten und hoffte auf ein Wunder, dass sie von hier wegbringen würde. Ein weiteres Gummibärchen wanderte in ihren Mund.
„He“, rief plötzlich eine Mädchenstimme. „Du bist Kim, nicht wahr?“
Kim öffnete die Augen. Vor ihr stand Alex. Kim schlug das Herz bis zum Hals.
„Ja“, verkündete sie wahrheitsgemäß.
Alex ging rasch zu ihr und setzte sich neben sie.
„Ich habe dein Kunstprojekt gesehen“, sagte sie. „Ist echt cool.“
„Danke“, entgegnete Kim kleinlaut und sah Alex an, als wäre sie der Dschinn, der aus Aladins Wunderlampe entfleucht war.
„Ich finde das toll, wie du diese Helden vorgeführt hast. Sie haben nichts besseres verdient“, erklärte Alex.
„Ich habe nur dargestellt, was ich empfand“, entgegnete Kim leise, während sie versuchte ihre Fassung wiederzugewinnen. Glücklich knetete sie dabei die Gummibärchenwundertüte.
„Diese Jungs gehören in die Klapse“, stellte Alex fest. Sie setzte ihren Protest gegen das Patriarchat fort, während Kim gebannt an ihren Lippen hing. Alex stellte schließlich am Ende ihres Vortrags fest, dass Kim toll zeichnen könne.
„Könntest du mich auch zeichnen?“, fragte sie plötzlich.
Kim antwortete nicht. Sie nickte nur und hörte auf, die Gummibärchen zu kneten. Sie nahm all ihren Mut zusammen, öffnete ihre Tasche und zog eines der Portraits heraus, die sie von Alex angefertigt hatte, und gab es ihr.
Plötzlich war es vorbei mit Alex' Beredsamkeit. Sie blickte lange auf die Zeichnung, dann sah sie Kim an, dann wieder die Zeichnung.
„Wow“, sagte Alex sichtlich beeindruckt.
„Ich schenke es dir“, sagte Kim leise.
„Danke“, entgegnete Alex.
Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen den beiden Mädchen. Die sonst so souveräne Alex war beeindruckt von diesem unerwartetem Geständnis. Kim wusste, dass in diesem Augenblick etwas geschehen war, dass sie so lange herbeigesehnt hatte. Sie wollte herausschreien, was sie fühlte, doch sie konnte nicht. Stattdessen sagte sie:
„Möchtest du?“, fragte sie und hielt Alex die Gummibärchentüte hin.
„Gern“, antwortete Alex lächelnd, griff in die Tüte und steckte eines der bunten Gummitiere in ihren Mund, wobei sie nicht den Blick von Kim ließ.
„Du kannst sie alle haben“, verkündete Kim mit verzücktem Lächeln.
„Wir teilen schwesterlich“, entgegnete Alex, nahm mit zwei Fingern einen Gummibären aus der Tüte und beförderte ihn langsam zu Kims Mund. Alex schob das Bärchen ganz sacht zwischen Kims Lippen. Kim ließ die Süßigkeit langsam in ihrem Mund verschwinden und zerkaute sie langsam. Dann nahm Alex ein weiteres Gummibärchen aus der Tüte, klemmte es zwischen ihre Zähne und lächelte erwartungsvoll. Kim klopfte das Herz bis zum Hals. Langsam näherte sich Kim Alex' Mund und als ihre Lippen sich berührten, schossen 10000 Volt durch sie hindurch.

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Kommentare zu diesem Text


 Buchstabenkrieger (02.01.20)
Hallo carlito,

hat mir gut gefallen, deine Geschichte.
Sauber geschrieben. liest sich flüssig. Sprache der Prota angemessen.

Ein paar Details:

in der kleinen Stadt im Ruhrgebiet.
Wofür ist die Erwähnung der Stadt für die Geschichte wichtig?

Eine warme Brise spielte mit ihrem dunkelbraunen Haar und liess es über ihre Schultern tanzen. Das Mädchen trug eine dunkle Jacke über ihrem mit Pailletten bestickten T-Shirt, eine Jeans und rosafarbene Leinenschuhe. Ihre weiße College-Tasche hatte sie mit vielen kleinen Filzstiftmalereien verziert. Ein Plüscheinhorn baumelte am Trageriemen der Tasche.
Haar = tanzen
Tasche = verziert
Einhorn = baumeln
Das gefällt mir sehr gut, wie du die Kleidung hier in den Text verarbeitest.
Jacke, T-Shirt und Schuhe hingegen hast du einfach bloß aufgezählt. Da ginge mehr oder lasse die ganz fallen.

Mathe, oh lieber Gott,
Gut, dass du (nur) ein Negativbeispiel bringst.

Kunst … Beim letzten Kunstprojekt war es um große Männer gegangen
Leistungskurs Französisch: Kim mochte französisch. Sie mochte den Klang und den Rhythmus der Sprache. Französisch lag ihr und dementsprechend gut waren ihre Noten. Vielleicht würde sie ja irgendwann einmal nach Frankreich reisen, nach Paris … zusammen mit Alex.
Dann hast du noch Kunst und Französisch erwähnt und es gut in Kontext gesetzt. Gut gemacht.

An einigen Stellen könntest du mehr Show einbauen, anstatt Tell zu verwenden.
Beispiele:
„Wow“, sagte Alex sichtlich beeindruckt.
Zeig, dass sie beeindruckt ist, behaupte es nicht nur.

ohne sich um die Grüße ihrer Mitschülerinnen zu kümmern.
Auch hier: Eine Szene, was sie genau macht, fände ich besser.
Sie dreht sich weg, schaut auf den Boden o.ä., als Mitschüler ihr zuwinken etc.

Wünsche dir einen tollen Tag und ein tolles neues Jahr.
LG, Buchstabenkrieger

 Carlito meinte dazu am 02.01.20:
@Buchstabenkrieger: Vielen Dank für deine Empfehlungen und auch dir ein tolles Jahr. Danke für die Mühe, die dir gemacht hast. Das mit dem Zeigen hapert bei mir noch ein bisschen.
Ein paar Worte zur Entstehung: Die Idee kam mir vor ca. 2 Jahren auf dem Höhepunkt der Weinstein-Affäre und der aufkommenden metoo-Bewegung. Einige meiner Idole stellten sich als ziemliche Lumpen heraus. Die Initialzündung lieferte dann der Film "Blau ist eine warme Farbe".
Ruhrgebiet ist da, "wo ich wech komm." Stimmt, trägt nichts zur Geschichte bei.
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