Der brasilianische Kuß

Anekdote zum Thema Einsicht

von  Graeculus

In der S-Bahn saßen mir gegenüber ein älterer und ein jüngerer Mann. Der jüngere sah südländisch aus und befaßte sich hauptsächlich mit seinem Smartphone. Soweit nichts Ungewöhnliches. Wenn sie miteinander Worte wechselten, dann in einer Sprache, die ich nicht einordnen konnte.

Am Ende der Fahrt  suchten wir, wie sich herausstellte, den gleichen Busanschluß, was wegen eines Bahnhofsfestes keine ganz einfache Aufgabe war. Darüber gerieten wir in ein Gespräch an der schließlich gefundenen Bushaltestelle, in dem der ältere Mann ein akzentfreies Deutsch sprach. Er stammte, wie sich zeigte, aus Karlsruhe, war ursprünglich bei der Post beschäftigt gewesen und bei deren Privatisierung aussortiert worden. Damals hatte er eine Brasilianerin kennengelernt und war zu ihr nach Brasilien gezogen. Die Sprache war brasilianisches Portugiesisch, der jüngere Mann sein Sohn. Dieser merkte, daß man über ihn sprach, setzte sich neben mich, umarmte und küßte mich.

„Oh“, sagte ich, „macht man das in Brasilien so?“
„Nein“, erwiderte der Vater, „aber er ist behindert.“

Die Ehe mit der Brasilianerin war geschieden. Inzwischen hatte er eine andere Brasilianerin kennengelernt und geheiratet. Mit dem Sohn war er nach Deutschland gekommen in der Hoffnung, ihm könne hier medizinisch besser geholfen werden. Seine zweite Frau löste gerade den Hausstand in Brasilien auf und wollte dann nachkommen.
So würden sie dann alle in unserem Nachbardorf wohnen, weil es da günstiger sei als in der Stadt.

Da der nächste Bus noch lange auf sich würde warten lassen, holte meine Frau mich mit dem Auto ab, so daß unsere Wege sich trennten.

Habe ich den jungen Mann zum Abschied geküßt? Nein, das ist undeutsch. Habe ich die beiden eingeladen, im Auto mitzufahren? Nein, und das ist deutsch.

Hinweis: Der Verfasser wünscht generell keine Kommentare von Verlo.

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (30.12.19)
Psychologen gehen davon aus, dass das Gefühl der Scham sich entwickelte, um gesellschaftlich abweichendes Verhalten - in beide Richtungen - zu unterbinden und so den den Zusammenhalt der Gesellschaft zu stärken. Gesellschaft verträgt nämlich nur ein geringes Maß an Abweichung. Das gilt sowohl für Punker als auch die Mitglieder eines Knigge-Vereins.

Offtopic:
So ist es auch nicht sehr schwer festzustellen, dass diejenigen, die von sich behaupten, keine Scham zu kennen, sich nur gegen die Werte (Gewohnheiten) stellen, die sie bei einer Gruppe, die sie zu ihren Feinden erklärt haben, glauben zu erkennen. d.h. sie benutzen das selbe System und sind so revolutionär wie jemand, der keine Clementinen kauft, sondern nur Mandarienen.

Wir sind bemüht Scham zu vermeiden, ganz gleich welchem Wertekanon (oder welchen Gewohnheiten) wir folgen. In weiten Teilen geschieht dies unbewusst. Wenn wir also von dem Wertekanon/den Gewohnheiten abweichen wollen, müssen wir uns nicht nur bewusst dafür entscheiden, wir müssen uns auch gegen das stellen, was wir - zumeist unbewusst - als gesellschaftlichen Kit akzeptiert haben. Mit anderen Worten:Wir müssten uns gegen die Gesellschaft stellen, zu der wir doch gehören (wollen)!

Dein letzter Absatz beruht auf deiner Ratio, nicht auf deinen Emotionen. Ich könnte jetzt schreiben, dass ich denke, dass es ein Beispiel dafür ist, was überlegen ist, Ratio oder Emotion. Tue ich aber nicht.

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
Wert lege ich auf die Feststellung, daß ich mich vor mir selbst geschämt habe, und zwar emotional, nicht rational. Das Urteil der Gesellschaft bedeutet mir wenig, und meine Frau, der ich im Auto die Geschichte geschildert habe, hat mir keine Vorwürfe gemacht.

Insofern danke ich für Deine interessante Interpretation, aber ich kann ihr nicht zustimmen.
Daß ich mich (unangenehm) deutsch gefühlt habe, darauf werde ich bei den Kritikern eingehen, die sich darauf beziehen.

 TrekanBelluvitsh antwortete darauf am 31.12.19:
Tatsächlich geht es in meiner Deutung nicht um die Scham. Was du da tatest, war Schamvermeidungsverhalten, die auf dem beruhte, was ich schilderte. Dazu habe ich erläutert, welchen Zweck die Scham erfüllt.

Und auch wenn du dich in dem Augenblick, in dem alles geschah, gleich geschämt hast, ist das doch die zweite Schicht der Scham. Diese beruht auf deinen individuellen Wertevorstellungen. Diese sind jedoch - mit aller größter Wahrscheinlichkeit - zum größten Teil rational bei dir entstanden. Die gesellschaftlichen Wertevorstellungen - das was man tut und vor allem das, was man zu lassen hat - sind jedoch in dir wie in jedem Menschen tief verankerte, weil wir sie mit dem Beginn unserer Sozialisation aufnehmen.

Diese gesellschaftlichen Wertevorstellungen enthalten natürlich auch rationale Anteile - das man nicht an die heiße Herdplatte greift -, aber eben auch kulturelle Anteile. Wir nehmen sie mit dem Beginn unseres Lebens auf. Diese zu hinterfragen, sind wir als Kleinkinder gar nicht in der Lage. Und wenn wir sie hinterfragen/beginnen zu hinterfragen/hinterfragen können, sind wir bereits älter und diese gesellschaftlichen Wertevorstellungen sind so tief in uns verankert, dass wir sie nicht mehr los werden. (Das Erfahrungen, die wir in/seit unserer frühesten Kindheit machen, extrem wirksam sind, steht außer Frage.) Das Mittel dazu ist das Schamvermeidungsverhalten.

Das bedeutet auch, dass wir wenn wir uns gegen die gesellschaftlichen Wertevorstellungen auflehnen, uns in vielen Fällen eben nicht nur gegen die anderen, sondern auch gegen uns selbst, d.h. unsere Gefühle auflehnen müssen. Das macht die Sache dann in der Tat doppelt schwer.

Antwort geändert am 31.12.2019 um 00:09 Uhr

 TrekanBelluvitsh schrieb daraufhin am 31.12.19:
P.S.:
Daraus folgt nicht, das Scham anerzogen ist. Nur Teile dessen, warum man sich schämt, d.h. was die Scham auslöst, ist anerzogen. Scham gehört zum Homo Sapiens.

 LottaManguetti (30.12.19)
Kein Kommentar

 Graeculus äußerte darauf am 30.12.19:
Darauf antworte ich:

 Dieter_Rotmund (30.12.19)
Die Schlussfragen sind mit zu moralinsauer, ansonsten gerne gelesen.

 FrankReich ergänzte dazu am 30.12.19:
Hi Graeculus,

die Anekdote ist sprachlich gut gestaltet, bis auf einige Kleinigkeiten, besonders aber den letzten Absatz, da stimme ich mit Dieter überein. Könntest Du den nicht umformulieren, denn besonders der erste Teil scheint mir arg konstruiert, da es laut Vater des Jungen auch keine brasilianische Eigenart sei, sich zu küssen; verständlich wäre, wenn Du es dem Jungen zum Abschied verweigert hättest, weil es uns Deutsche beschämt. Falls Du es dennoch bei den Fragen belassen willst, hier ein Änderungsvorschlag: "Habe ich mich zum Abschied von dem jungen Mann küssen lassen? Nein, das wäre undeutsch."

Ciao, Frank

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
Ich denke noch nach über den Schluß. Vorläufig: Warum habe ich den jungen Mann nicht zum Abschied umarmt und geküßt, obwohl ich doch gesehen hatte, daß ihm sowas Freude bereitete? Dazu bin ich zu distanziert. Und von Freunden aus dem südlichen Ausland höre ich genau das immer wieder: sie empfinden uns Deutsche als distanziert.

Antwort geändert am 30.12.2019 um 13:09 Uhr

 FrankReich meinte dazu am 30.12.19:
Das meinte ich mit den Kleinigkeiten, denn dass es dem jungen Mann Freude bereitete, geherzt und geküsst zu werden, geht aus dem Text nicht hervor. Prinzipiell hast Du natürlich recht; mit der Modifikation des letzten Absatzes bezog ich mich allerdings auch nicht auf eine grundlegende inhaltliche Änderung.

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
An Ralf:
Daß es dem jungen Mann Freude bereitet hat bzw. bereitet hätte, habe ich aus seinem Verhalten erschlossen. N iemand hat etwas von mir verlangt.

An Dieter:
Du weißt wohl - oder könntest wissen -, daß ich kein sehr moralisch empfindender Mensch und schon gar kein moralisch schreibender Autor bin. Das schließt jedoch Selbstkritik oder Scham in bestimmten Situationen nicht aus.

 Regina (30.12.19)
Den letzten Absatz würde ich anders formulieren. Dir lag einfach nichts daran, die spontane Busbekanntschaft auszubauen. Und ich kenne Franzosen, die lieber in den Erdboden versinken würden als einen Mann zu küssen. die Bises gibt es nur unter Frauen und von Frauen zu Männern. Und der Vater war ja nun auch selber Deutscher war, mag er die Einladung ins Auto nicht erwartet haben, wobei ich auch nicht sehe, dass es dieses Angebot grundsätzlich unter Deutschen nicht gibt. Natürlich kann man reflektieren, was an einem selber nun "iypisch deutsch" sei, aber das in zwei Fragen und Antworten abzutun, greift zu kurz. Neujahrsgrüße Gina

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
Was ich mir von mir selbst gewünscht hätte in dieser Szene, war die Fähigkeit, emotional reagieren zu können, wo genau das eigentlich naheliegt. Nicht daß es sich um einen jungen Mann handelte, war für mich entscheidend, sondern daß er ein intellektuell zurückgebliebener, aber emotional stark empfindender Mensch war - das war es, was mich beeindruckt hat.
Und das, so scheint mir, tritt bei Deutschen häufiger auf als bei Menschen südländischer Kulturen: kühle Distanz.

 EkkehartMittelberg (30.12.19)
Lieber Graeculus, mir der wachsenden Pluralität einer Gesellschaft wird es immer weniger Verhaltensweisen geben, die für diese als typisch gelten können. Das gilt auch und insbesondere für das heutige Deutschland.
Ich lerne von dir, einen Alltag genauer auf das zu befragen, was anekdotenwürdig ist.
LG
Ekki

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
Und: eine gute Anekdote beinhaltet auch eine Selbstbefragung, ist also nicht bloße Unterhaltung. Oder?

 Manzanita (30.12.19)
Natürlich ist man nicht dazu gezwungen, einen Mann zum Abschied zu küssen, weil dieser einen selbst geküsst hat, als er dich kennengelernt hat, das ist eine Entscheidung die man völlig frei davon treffen kann. Natürlich kann es besonders nett sein, aber man kann auch nicht davon ausgehen, dass sich die Person regelmäßig wäscht. Auch muss man die Person nicht im Auto mitnehmen, weil man sie trotz eines netten Gespräches vielleicht immer noch nicht zu gut kennt. Aber all diese Entscheidungen hängen letzten Endes von dir und von deinem ersten Eindruck sowie von deinem Vertrauen in der Person ab, aber zustimmen kann ich dir, wenn du sagst, dass zum Abschied küssen undeutsch und einen Ausländer im Auto nicht mitzunehmen deutsch ist.

Manzanita

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
Ach, lieber Manzanita, mit der Freiheit ist es nicht besonders weit her. Vor allem dann nicht, wenn man instinktiv, d.h. nach gewohnten Verhaltensmustern reagiert.
Denkt man dann darüber nach, bemerkt man seine Schwäche. Doch dann ist es gewöhnlich zu spät, und wiederholen werden sich nur wenige Gelegenheiten. Die Griechen nennen das den καιρός, den rechten Augenblick, der schnell vorbei ist.

 TassoTuwas (30.12.19)
Gestatte mir, dass ich deine Anekdote zum Anlass nehme, unsere lieben Weltreisenden auf die Begrüßungskussproblematik hin zu weisen. Gerade in Brasilien ist wichtig wie oft, Sao Paolo einen, Rio zwei, andere Regionen sogar drei. Man möchte ja nicht unangenehm auffallen.
Ausgehend von der deutschen Bussi-Bussi-Schicki-Micki-Haupstadt hat sich der Begrüßungskuss-Inflationsvirus hierzulande inzwischen bis nach Dithmarschen und in die Oberlausitz ausgebreitet!
Kusslose Grüße TT

 Graeculus meinte dazu am 30.12.19:
Aber vor einem geistig behinderten Mann und seinen Emotionen schrecken wir zurück, oder?
Und sie im Auto mitzunehmen, hätte uns nichtmal einen Umweg gekostet. Wir mußten durch ihr Dorf durch, um zu unserem zu gelangen.

 niemand (30.12.19)
Irgendwie seltsam, die "Aussage" dieser Anekdote. Besonders der Schluß klingt wie ein Schuß in Richtung "wir Deutschen sind ...." [natürlich negativ, wie denn sonst]. Ginge es hier um landesinterne Sitten und Gebräuche, könnte man die beiden, die deutsche Sitte und die brasilianische gegenüber stellen, sich darüber mokieren welche denn besser sei etc. Aber hier geht es doch um einen behinderten Jugendlichen uns seinen Hang zur Umarmung. Wobei ich diesen Hang auch schon einmal erlebt habe und zwar mit einer Schwester meiner Arbeitskollegin, einem Mädchen mit Down-Syndrom. Die hat mich fortdauernd abgeküsst, war mir als jungem Menschen auch zu viel wurde. Doch das war genauso wenig deutsch, wie das Abküssen des Halb-Brasilianers brasilianisch war..
Ich weiß nicht, ob ich richtig schlußfolgere, aber mich kommt es hier vor, als ob man wieder dieses übliche negativ-Klischee des Deutschen aufs Tablett legen möchte. Dieses unterschwellige bewundern des Fremdländischen, contra der unterschwelligen Kritikfreude am Inländischen. Viele Deutschen rutschen gerne auf dem Bauch vor allem was von außerhalb kommt und "verdammen" mit einer schieren Wollust eigene Eigenschaften.
So eine Art Masochismus lässt sich dabei durchaus erkennen.
Man muss/sollte das Eigene nicht hoch stellen, man muss sich aber auch nicht unbedingt verzwergen. Beides scheint mir ziemlich ungesund. LG niemand

 Graeculus meinte dazu am 31.12.19:
Gibt es denn, zunächst mal ohne Bewertung, landestypische Verhaltensweisen? Verhalten wir Deutschen uns in bestimmten Situationen durchschnittlich anders als Angehörige anderer Nationen?
Und wenn es sowas gibt, kann bzw. darf man das unter bestimmten Umständen nicht mal bedauern?

Ich fühle mich - anders, glaube ich, als Du - dem Deutschtum nicht besonders verbunden. Im Grunde wäre ich gerne ein antiker Grieche - deshalb auch: Graeculus.

 niemand meinte dazu am 31.12.19:
Da werde ich Dich sicher enttäuschen, denn auch ich bin dem Deutschen nicht dermaßen verbunden, wie man vielleicht denken könnte. Schon deshalb nicht, weil ich in Polen geboren wurde und dort meine Jugend verbracht habe. Aber es wundert mich immer wieder und erstaunt mich, wie sich dieses Volk hier zu verzwergen bemüht und wie es jedem "Ausländischen", egal in welcher Form hinterher läuft und es beweihräuchert, als ob es sich anbiedern müsste. Man schämt sich hier fast für alles, was einem eigen ist und sein könnte, sowas habe ich in Polen nicht erlebt. Die rutschen vor keinem auf dem Bauch. Irgendwie kommt mir jedoch der Gedanken, dass solch ein "Verzwergen" auch eine Art von Größenwahn sein könnte. So unter dem Motto: "Wir sind die Demütigsten dieser Welt". Das nimmt langsam wirklich skurrile Formen an.
Wie dem auch sei, liebe Grüße und einen guten Rutsch!
niemand

 Graeculus meinte dazu am 31.12.19:
Vereinfacht und als Hypothese gesagt: Die Deutschen haben es von 1890 bis 1918 arg übertrieben (An Deutschlands Wesen soll die Welt genesen!), dann eins auf die Klappe bekommen, worauf sie von 1933 bis 1945 wieder eine dicke Lippe riskiert haben (Heute gehört uns Deutschland / Und morgen die ganze Welt!), und heute backen sie teils wieder kleine Brötchen, teils sind sie "Exportweltmeister".
Seltsamer Volk. Manisch-depressiv.
Cora (29)
(13.01.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Graeculus meinte dazu am 13.01.20:
Im Nachhinein hätte ich das gerne vorgeschlagen. Dazu fehlt es mir in der Regel tatsächlich an Spontaneität.

Noch am Freitag habe ich mich mit einem Syrer unterhalten, der die Distanziertheit der Menschen in Deutschland beklagte.
Nicht, daß er nach Syrien zurückmöchte! Er weiß das durchaus zu schätzen, daß ihm hier nicht die Wohnung geplündert und zerstört wird, wie es ihm in Syrien widerfahren ist. Nicht, wenn man in einem Schwarzwalddorf lebt.

Sicherheit und[/i] warmherzige Nähe - you can't have it all.
Cora (29) meinte dazu am 13.01.20:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram