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Erzählung zum Thema Ende

von  RainerMScholz

Manchmal stelle ich mir die Frage, ob da draußen noch jemand ist, Menschen, Personen, Individuen, ob da noch etwas anderes existiert als das, was wir Realität nennen. Die Lichter rauschen grell vorüber, der Flügelschlag eines großen weißen Vogels, ein endlos sich windender gelbgepanzerter Lindwurm in der unheimlichen Finsternis der erloschenen Stadt. Blinde Augen starren bläulich aus metallenen Stellwänden an den Straßenrändern, knotige Baumskelette tasten suchend über den Laternen einer lichtlosen unbenannten Allee.
Ich saß in der letzten Bahn Richtung Südbahnhof und starrte aus den verkratzten Fenstern. Nacht. Schwärze. Und diese vorbeihuschenden Lichter, irritierende Prismen, die, vereinzelt, so zu einem Ganzen sich vermischten. Weiter vorne saß alleine eine Frau. Und ihr Alleinsein machte mich neugierig. Das Wagnis, die Elaboriertheit in der letzten Bahn der Stadt nachts hier zu sein und scheinbar unbekümmert, frei, ihrer selbst sicher ihrem eigensten Ziel zuzustreben. Sie hatte den Kopf sanft gesenkt, sie las ein Buch in ihrem Schoß. Ihre kirschholzfarbenen Haare wellten um ihren Nacken. Grazil strich sie von Zeit zu Zeit eine Strähne aus der Stirn, ihre feingliedrige Hand schien dabei in der Luft tanzen zu wollen, als hätte sie ein eigentümlich elfengleiches Leben inne.
Ich schlich mich lautlos zu ihr, während der Zug im Gleisbett schlingerte und stöhnte, tastete mich leise zur Spitze der Bahn. Wir waren alleine, die einzigen Passagiere. Sie bemerkte mich nicht, vertieft in eine Geschichte von Liebe und Leid, Hass und Neid, Macht und Reichtum und seelenloser Ohnmacht. Die Schatten flogen an den Scheiben vorüber. Und ich war einer von ihnen.
Ich saß unmittelbar hinter ihr. Vielleicht spürte sie meinen Blick, mein Atem streifte ihre Haut, ihr Kopf zuckte herum und sie sah mich jäh aus den Augenwinkeln. Das Buch glitt zu Boden, die Seiten raschelten, der Deckel klappte zu. Ich hatte das plastikverschalte Teppichmesser in der Hand und hielt mit leichtem Druck ihre Kehle. Sie stieß einen überraschten Schrei aus. Ihr Körper schlitterte unter meinem Griff weg, sie schluchzte gurrend, und sagte kein einziges Wort. Ich trat um die Sitzbank herum, stand vor ihr, sah in ihr Gesicht hinab. Ihre entsetzten braunen Augen suchten meinen Blick und wichen ihm wiederum auch aus. Sie versuchte zu sprechen, aber ich schüttelte den Kopf. Tränen rannen ihre geröteten Wangen hinab, zitterten über die erbleichten Lippen, sammelten sich auf der Klinge an ihrem Hals. Draußen winkten die dürren Äste an den Knochenbäumen. So knöpfte ich ihre Bluse auf. Die emaille­weißen Brüste lagen bloß, ihre Brustwarzen: steif rosa. Ich blickte in dieses jammervolle, angstverzerrte Gesicht, sah den verzweifelten Glanz in den Augen und schnitt ihre Kehle durch.

Sie hat nichts gespürt. Bestimmt. Ihr Mund schnappte gurgelnd nach Luft und das Blut schoss ihr aus der zerschlitzten Kehle, ergoss sich über ihren Körper. Ich vergrub meinen Kopf an ihrem rotlackierten Busen, ihr Körper bebte noch, wand sich rotalabastern, und sie legte krampfend die Arme um meinen Hals. Versunken in diesem Schleier aus funkelnden Rubinen feierten wir still eine Hochzeit. Ich trank ihre Liebe, schmiegte mich in ihr Innerstes, fühlte ihre umschließende Wärme.
Ich küsste ihren jungfräulichen roten Mund und verabschiedete mich zärt­lich von ihr. Denn meine Station war gekommen. Ich stieg aus. Die Türen glitten pneumatisch zur Seite, ein alter Mann, den Hut tief in der Stirn, stieg ein, beachtete mich nicht. Er setzte sich an das äußerste Ende, faltete die arthritischen Hände und sagte nichts. Ich stand Außen und winkte ihr mit roststarrendem Kopf zum Abschied, als sie weiterfuhr.
Ich dachte: Clarissa. Mein Leben, Clarissa. Das nächste Mal.

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