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Erzählung zum Thema Ende

von  RainerMScholz

„Ich weiß nicht mehr wann es angefangen hat: Die Hölle ist da, wo ich bin. Es war alles ganz einfach. Die Leute sterben, das ist alles. Einfach so. Kein Aufbegehren, keine Gegenwehr, sie lassen sich erschla­gen, verletzen, verstümmeln und erstechen, ohne zu verstehen, ohne einen Funken Verstand. Ohne sich zu wehren. Wie Vieh. Wie verblödete weiße Kaninchen. Ein einziges Schlachthaus. Es ist viel zu leicht.
Beim ersten Mal tut’s immer weh? Nein, weshalb? Weder Reue noch Befrie­digung. Neugier vielleicht. Eigentlich war ich ein wenig enttäuscht, dass es so unspektakulär sein sollte. Ein Leben beenden, was soll`s schon. Meines ist irgendwo im Abguss steckengeblieben. Es ist passiert, das ist alles. Es ist eine große Gleichgültigkeit in der Welt, eine tiefe Leere. Die beinerne Mühle zermahlt alle Empfindung zu einem feinen
blutigen Staub, der in den Sonnenuntergang frostiger Winter steigt. Eine monströse Apathie ist nötig, um das alles zu ertragen.“
„Ich kann das nicht verstehen.“
„Clarissa, ich habe dich immer geliebt. Die größte Sünde ist die Verneinung einer Existenz.“
Sie machte eine panische Bewegung weg von dem Küchentisch, an dem sie katzengleich saß.
„Tu das nicht. Ich will nicht -. Ich will das nicht tun müssen.“
Sie drehte die Handflächen nach außen. Er konnte ihre Linien erkennen, den weißen Handballen, das Zittern. Sie waren in der schwarzweißgekachel­ten, engen kleinen Küche. Auf dem Herd stand ein verkrusteter Aluminiumtopf mit kalten Spaghetti, in der Spüle häufte sich schmutziges Geschirr zu einem wackligen Turm, neben dem verbeulten Kühlschrank standen leere Flaschen. Die tiefhängende Küchenlampe warf ein gelbes Rund auf ihre Arme und Beine. Lustige Aufkleber grinsten von den Hängeschränken und ein zerrupfter Teddybär saß auf der Anrichte.
„Ich wollte nur zum Kühlschrank, o.K.?“
Seveso sah aus dem Fenster auf die menschenleere Straße. Das regennasse Kopfsteinpflaster schien wie granitenes Mondgestein onyxglänzend schwarz unter den Lichtern der Stadt. Am Bordstein lagen zerknüllte Dosen, Pa­pierfetzen, Pappbecher, Menschenhaar, abgeschnittene Gliedmaßen, zer­teilte Föten, ausgeweidete Herzen, die noch pochten. Seelenverrecker, Napalmhirn. Eine einsame, Dunkelheit streuende Laterne zweifelte in die Nacht.
Gleich wird er mich umbringen, dachte Clarissa und verhielt sich ganz still, so still, wie nie in ihrem Leben zuvor, eine zu Eis gewordene Gestalt. Leise zitterten ihre Hände, in Schüben wurde ihr Körper ge­schüttelt, ihr Magen verkrampfte sich - es war beinahe wie Schmetterlinge im Bauch. Obschon sie mit aller Macht versuchte dagegen anzukämpfen, blieb ihr Blick auf einen Punkt unterhalb des Nackens des ihr abgewandten Körpers gebannt.

Seveso sieht gedankenverloren durch das Fenster, die Straße zeigt ihr Gesicht, für einen schon vergangenen Augenblick, starrt zurück und lä­chelt. Ein herrenloser verwahrloster struppiger Hund schnüffelt an dem Laternemast, wittert mit erhobener Schnauze in die Luft und trottet weiter in einem zerbrechlichen, weißen nackten Körper.
Seveso klappt das Messer auf, sieht in die Schwärze von Clarissas aufgeris­senen Augen. Er sieht sich. Er sticht die Klinge energisch durch das Gewebe der Hose in das Fleisch oberhalb seines rechten Knies, schneidet den Oberschenkel klaffend tief auf, damit die Knochen leichter brechen beim Aufschlag. Dann zerschneidet er sein linkes Bein. Clarissa schlägt die Hände vor das Gesicht, stöhnt laut auf, hell und klar wie das Klagen von Katzen. Blut wallt rosarot in Strömen in die Küche, überschwemmt den Boden, benetzt ihre nackten Füße, sickert in das schäbige abgewetzte Linoleum.
„Die Knochen brechen leichter. Wusstest du das?“
Ruhig wendet Seveso sich Clarissa zu.
„Hatte ich noch etwas zu sagen? Nein, gar nichts mehr. Nichts mehr auf dem Herzen.“
Die Klinge umklammernd, hebt sich die verkrüppelte Faust wie zum Gruß. Seveso öffnet das Fenster.
„Ich bin das, was ich scheine, und scheine doch nicht das, was ich bin.“
Seveso öffnet das Fenster - und ist einfach verschwunden. Fort. Unfassbar weit weg.
Clarissa sieht ihre zitternden Hände, steht auf vom Tisch, geht zum Fenster und schließt die Flügel.

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