Die Pfütze

Erzählung zum Thema Erinnerung

von  Carlito

Wann war er zuletzt mit seinen Kinderpuppenfüßen abgehoben und in eine Pfütze gesprungen?
Kurt stand auf der Straße und betrachtete die Pfütze, auf deren Oberfläche die Irrlichter des Herbstes tanzten. Das Glitzern ließ ihn blinzeln, aber er hörte nicht auf hinzusehen.
Ein halbes Jahrhundert hatte sich in seinen Leib und in seine Seele gegraben und dort Spuren hinterlassen. Manche waren Narben, andere Liebkosungen. Aber nichts war wie zuvor.
Manchmal wünschte er sich in die Zeit zurück, in der er geheimnisvolle Dschungel und dunkle Schlünde erkundet hatte. Nesseln und Dornen hatten ihn niemals aufgehalten.
Er wurde erwachsen.
Das Sein goss sich in Formen und Strukturen, hörte auf zu toben und zu vibrieren, erstarrte. Er erlernte einen Beruf, der keine Berufung war, wie er später herausfand. Es galt zu bestehen, zu überleben, den Beitrag zu leisten, die Pflicht zu erfüllen, das Raster auszufüllen. Das Brodeln in ihm wurde leiser und leiser.
Aber es starb nicht.
Kurt blickte auf die Pfütze.
Er blickte auf diesen mikroskopisch kleinen, wundervollen Ozean.
Passanten blieben stehen und sahen zu, wie Kurt mit der Pfütze sprach.
Die Herbstirrlichter kitzelten wieder seine Nase, als er zu den Leuten hinüberblickte. Sie sahen nichts, verstanden nichts. Kurt wandte sich von ihnen ab. Das Sehnen der Pfütze und sein Sehnen wurden eins.
‚Ihr wisst ja gar nicht, was Schuhgröße sechsundvierzig anrichten kann‘, dachte er, als er zum Sprung abhob und sein Grübeln in unendlichem Jauchzen ertrank.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (25.01.20)
Das ist schön, Carlito. Und bereitet mir so ein innere Kurt-ich-verstehe-dich-so-gut-Freude am frühen Morgen.

Liebe Grüße
p.

 Carlito meinte dazu am 25.01.20:
Es freut mich, dass es dir gefällt. Man sollte es mit dem Erwachsensein nicht übertreiben.
Sätzer (77)
(25.01.20)
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 Carlito antwortete darauf am 25.01.20:
Dankeschön! Vielleicht kaufe ich mir demnächst wieder ein Paar Gummistiefel.

 Strobelix (27.01.20)
Der Text liest sich für mich sehr reflektierend und angenehm melancholisch, bis dann die kindliche Sichtweise den Rahmen des Erwachsenseins sprengt. Gelungen beschrieben ...

 Carlito schrieb daraufhin am 27.01.20:
Danke für deinen Kommentar und deine Empfehlung!

 Lluviagata (28.01.20)
Ach Carlito,

wie war das mit dem Wortschatz? Hmhm. ;)
Ich kann träumen und Sehnsucht empfinden bei deinen Texten, erkenne mich oft wieder. So muss das sein.

Liebe Grüße
Llu ♥
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