Ein neues Jahr

Kurzprosa

von  BeBa

Täglich um 2:50 Uhr morgens: Aufwachen, Blick auf den Wecker. Ich drehe mich von einer Seite auf die andere, bis ich resigniere, weil mir das Einschlafen nicht gelingt. Nach einem erleichternden Toilettengang stehe ich am Fenster. Im Sommer ist es offen und ich bilde mir ein, die Straße bis hier oben zu riechen: Die Pisse des Straßenköters, der sein Bein gegen die Straßenlaterne hebt oder die Fahne des Obdachlosen, der mit dem spärlichen Rest in seiner Lambruscoflasche neben unserem Müllcontainer einen Schlafplatz gefunden hat und dort schnarcht.
„Wo bist du?“
Dabei ist es in jeder Nacht dasselbe. Warum fragst du immer? Und warum antworte ich immer wieder?
„Hier.“
Heute, bei diesem Januarregen, halte ich das Fenster geschlossen. Dem Hund ist es zu nass und den Obdachlosen haben sie vor Tagen tot hinter unserem Container gefunden, zugedeckt mit gebrauchtem Weihnachtspapier. Ein paar Gutmenschen zünden seitdem an der Stelle jede Nacht eine Kerze an. Die brennt bei dem Wetter auch nicht.
„Was machst du denn da?“
Weißt du, wie nervig diese Fragen sind? Immer dieselbe Leier! Wie gern würde ich hier stehen, und in aller Stille den Regentropfen bei ihrer Wanderung an der Scheibe entlang zuschauen.
„Gucken!“
Zweiter Januar. Ich hoffe, der Regen geht bald in Schnee über. Welch eine Überraschung für alle! Ich würde im Bett liegen und ihnen zuhören, wie sie fluchend ihre Autos freischaufeln, um zur Arbeit zu kommen. Ein Chaos gäbe es auf den Straßen, die Verkehrsmeldungen wären wieder länger als Nachrichten und Wetter zusammen.
„Um drei?“
Immer dieselbe blöde Frage! Es ist doch immer drei. Unerträglich!
„Sicher!“
Es bleibt beim Regen. Jemand eilt mit Schirm über die Straße, auf unser Haus zu. Mir scheint, es ist die Nachbarin aus dem ersten Stock, die du Hure nennst und von der du behauptest, dass sie anschaffen geht. Das ist mir schnuppe, allein dein Gerede ist mir nicht egal. Woher hast du all diese Weisheiten? Ich kanns nicht mehr hören. Das Stakkato von High Heels hallt durchs Treppenhaus.
„Komm endlich zurück ins Bett!“
Da ist er, dieser Moment! Wie ich ihn hasse! Du aus dem Hintergrund! Warum kannst du nicht schlafen und mir mein Leben lassen? Warum nicht?
„Hörst du?“
Verdammt, und wie ich höre. Seit Ewigkeiten schon höre ich, immer wieder, immer ab drei!
Aber heute nicht. Das neue Jahr hat angefangen, und es startet ruhig. Halb vier, und ich stehe völlig unbedrängt hier. Ja, alles wird anders.
Die Nacht über lasse ich das Fenster geschlossen. Morgen früh muss ich es aber öffnen.


Anmerkung von BeBa:

Ursprünglich endete der Text mit:

Du fängst langsam an zu riechen.

Auf den Kommentar von Dieter hin habe ich ihn gestrichen. Ich war mir selbst nicht so sicher. Vermutlich kann dere Leser die Wahrheit dennoch erahnen.

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Kommentare zu diesem Text


 eiskimo (23.02.20)
Sehr gut geschrieben, man ist mit allen Sinnen dabei. Die Stimme im Hintergrund kommt mir bekannt vor.
lG
Eiskimo
Stelzie (55) meinte dazu am 23.02.20:
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 BeBa antwortete darauf am 23.02.20:
Danke dir, eiskimo.

LG
BeBa

 AchterZwerg schrieb daraufhin am 23.02.20:
Eiskimo hat eine im Keller. In der Kühltruhe, selbstverständlich, Stelzie!

 eiskimo äußerte darauf am 23.02.20:
Von wegen, das ist der Radiowecker mit WDR5
Stelzie (55)
(23.02.20)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 BeBa ergänzte dazu am 23.02.20:
Danke dir, Kerstin. Ja, der letzte Satz ist etwas heftig.

LG
BeBa

 Dieter_Rotmund (23.02.20)
Nicht schlecht, aber der letzte Satz ist doof, wenn ich das mal so unverblümt sagen darf. Würde ich weglassen.

 BeBa meinte dazu am 23.02.20:
Hallo Dieter,

ich habe den letzten Satz auf dein Anraten gestrichen. Ich war selbst im Zweifel, bin ich noch.

LG
BeBa

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 24.02.20:
Schön.
Da ist aber noch ein Satzpunkt zurückgeblieben ...

 BeBa meinte dazu am 24.02.20:
Wo?

 EkkehartMittelberg (23.02.20)
Hallo Beba. Ein nachvollziehbarer Text, in dem das Verschwiegene beredter ist als das Gesagte.
Liebe Grüße
Ekki

 BeBa meinte dazu am 23.02.20:
Lieber Ekki,
das ist ja oft so.

Danke dir und LG
BeBa

 AchterZwerg (23.02.20)
Gut, dass du Dieters Tipp gefolgt bist, BeBa.
So finde ich den Text deutlich besser. :)

 BeBa meinte dazu am 23.02.20:
Im nachhinein finde ich das jetzt auch.

Danke dir, lieber 8.

Gruß von DA nach F
BeBa

 IngeWrobel (24.02.20)
Hallo BeBa,
gut, dass Du den ursprünglichen Schluss nachlesbar machtest.
Im Grunde läuft der ganze Text folgerichtig hin zu dem Ende.
Wenn Du den letzten Satz streichst, wie jetzt geschehen, haben/machen die beiden letzten Sätze keinen Sinn ... dann sollten die auch weg.
Mich wundert, wieso Du (ausgerechnet!) auf Dieter_ hörst, der den Text ja nicht mal empfehlenswert findet. Das entspringt doch nur dessen üblichem Drang zum Kritteln und nicht einer ernsthaften Auseinandersetzung mit einem/Deinem Text.
In der ursprünglichen Form wäre das eine Realsatire im Stile von Roald Dahl.
Solltest Du die beiden letzten Sätze ab: "Die Nacht..." streichen, empfehle ich, den dann letzten Satz in "Ja, alles ist anders – endlich!" zu ändern.

Da Du diese Situation in, wie ich es von Dir kenne, guter Sprache und spannend schilderst, bekommst Du dafür meine Textempfehlung. Unabhängig davon, wie das Ende wird oder bleibt.
Liebe Grüße
Inge

 BeBa meinte dazu am 25.02.20:
Hallo Inge,

vielen Dank für deine Worte. Ich bin hier hin- und hergerissen. Deine Argumente verstehe ich, vor allem, was die letzten zwei Sätze angeht.
Andererseits ewar ich mir von Beginn an nicht sicher, ob der letzte Satz wirklich sein sollte.
Und unentschieden bin ich noch immmer, Zum Glück, du sagst es ja selbst, habe ich mehr oder weniger beide Versionen stehenlassen.
Manchmal braucht es etwas Zeit, bis man zu einem Schluss kommt. Die brauche ich wohl hier ...

Aber danke dir für die offenen Worte und deine Argumentation.

LG
BeBa
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